Zweite Reihe: The Lost Files of Sherlock Holmes [SKRIPT]
Dies ist das Skript zu dieser Podcast-Folge hier.
Zweite Reihe: The Lost Files of Sherlock Holmes
Die meisten Geschichten von Sherlock Holmes beginnen mit der Nachricht von einem besonders vertrackten Verbrechen. Aber die Notiz, die im November 1888 von einem Streifenpolizisten in der Baker Street 221b abgegeben wird, ist vergleichsweise banal. Inspector Lestrade von Scotland Yard informiert Sherlock Holmes in dürren Zeilen darüber, dass eine junge Frau ermordet wurde, eine Schauspielerin, im Hinterhof des Regency Theaters, und er liefert die Lösung gleich mit: Jack the Ripper hat wieder zugeschlagen. Es ist nicht ganz klar, warum Lestrade Holmes ausgerechnet zu diesem Fall hinzuzieht, aber er schließt sein Schreiben mit den Worten: „Der Yard wäre für Ihre Meinung sehr dankbar.“ Womöglich hängt es damit zusammen, dass der Ripper bis dato ausschließlich in Whitechapel gemordet hat, in dem Slums im Osten von London. Das Regency Theatre liegt in Mayfair, im Herzen der Stadt. So greifen Sherlock Holmes und sein Begleiter Dr. Watson zu ihren Hüten und starten in den Fall des gezackten Skalpells, The Case of the Serrated Scalpel. Nur wird der nicht auf Papier erzählt, sondern als Computerspiel: als Adventure von Electronic Arts aus dem Jahr 1992.
Sherlock Holmes ist – ich schäme mich fast, das zu erklären – die berühmteste Detektivfigur der Literaturgeschichte, erfunden von Arthur Conan Doyle und zwischen 1887 und 1927 im Einsatz in 4 Romanen und 56 Kurzgeschichten, also 60 offiziellen Fällen. Die Abenteuer des Meisterschnüfflers waren bekanntlich so populär, dass Doyle ihn 1893 sterben lies, weil er die Nase voll hatte, ständig neue Geschichten zu erfinden; woraufhin in London Menschen mit schwarzen Trauerbinden auf die Straße gingen, und das „Strand“-Magazin, in dem die Geschichten erschienen waren, 20.000 empörte Abo-Kündigungen erhielt. Schon zu Lebzeiten Doyles kursierten in einigen Ländern Europas die ersten Ableger-Werke, und nach seinem Tod pflanzte sich das Erbe von Sherlock Holmes in jedem neuen Medium fort, in Radio-Hörspielen, in Filmen, Fernsehserien und ab den 80er-Jahren natürlich auch in Computerspielen. Davon gibt es genügend: Zu dem Zeitpunkt, als Electronic Arts über ein Sherlock-Holmes-Adventure nachdachte, war der Detektiv schon in mindestens acht Spielen aufgetreten, darunter bekannte wie Infocoms Sherlock oder ICOMs Consulting Detective. Das setzt sich fort bis in die Jetztzeit; seit 2002 Jahren bringt Frogwares im Schnitt alle zwei Jahre ein neues 3D-Abenteuer heraus, und seit Neuestem sucht Sherlock Holmes auch im Wimmelbild-Genre nach der Socke, dem Gurkenglas und dem Hornhautraspler. Warum also greife ich ausgerechnet das Holmes-Adventures von Electronic Arts und seinen Nachfolger aus diesem Kanon heraus, zumal ich sie – das gleich vorausgeschickt – für ziemlich mittelmäßige Spiele halte? Zum einen natürlich, weil ich sie sehr mag, und das die Frage aufwirft, inwiefern ein spielerisch unbedeutender Titel trotzdem eine bedeutsame Erfahrung sein kann. Vor allem aber, weil sie in vieler Hinsicht exemplarisch für alle Sherlock-Holmes-Spiele stehen, die letztlich alle vor der gleichen Herausforderung stehen: Wie baut man ein Rätselspiel um einen Charakter, der von Vornherein sehr, sehr, sehr-sehr-sehr viel schlauer ist als der Spieler selbst?
Entstehungsgeschichte
Eine der bemerkenswerteren Seiten am Fall des gezackten Skalpells und seinem Nachfolger, Das Geheimnis der tätowierten Rose ist, dass sie von Electronic Arts stammen. Das braucht eine kurze Erklärung.
Electronic Art ist heutzutage der zweitgrößte Spielhersteller der Welt, und war im Laufe seiner Geschichte für Vieles bekannt, nie aber für Adventures. Das soll nicht heißen, dass EA keine Adventures im Programm hatte, im Gegenteil; schon im ersten Jahr des Bestehens findet sich der Zeppelin-Krimi „Murder on the Zinderneuf“ im Portfolio. Aber in der Gesamtgeschichte des Unternehmens bildet die Handvoll Adventures bestenfalls eine Fußnote, zumal kein einziges von Rang dabei war. Anfang der 90er, zur Blütezeit des Genres, war Electronic Arts in erster Linie eine Firma für Action, Sport und Rollenspiele.
Zu jener Zeit war Electronic Arts gerade mal acht Jahre alt, aber schon eine der wichtigsten Spielefirmen der USA. EA hatte 1982 als Publisher begonnen, als rebellische Industrie-Avantgarde, die Spiele als Autorenwerke begriff und den Namen „Elektronische Kunstwerke“ mit großem Ernst im Namen führte. Acht Jahre später war EA massiv gewachsen, und eine Firma im Wandel. Der künstlerische Anspruch war da schon abgelegt. Mit John Madden Football lag die Grundlage für die späteren Sportserien; Electronic Arts verschob seinen Schwerpunkt von den Heimcomputern auf die Konsolen, von Amiga, ST und DOS hin zu Segas Mega Drive – schon damals war Konsolenentwicklung einfacher, vor allem aber lukrativer. 1991 begann EA mit der Übernahme von Distinctive Software seinen Einkaufs-Feldzug, der den Aufstieg der Amerikaner zur Firma von Weltrang einläutete; von Distinctive Software stammt dann Jahre später Need for Speed. Vor allem aber hatte Electronic Arts ab 1987 begonnen, selbst Spiele zu entwickeln, statt sie nur zu verlegen. Das Geschäft war im Ausbau, EA warb erfahrene Leute von anderen Spielefirmen ab. Einer davon war der Producer Christopher Earhardt, der von Infocom kam, einer Adventure-Firma.
Und Adventures sind in den frühen 90ern auf ihrem Höhepunkt, LucasArts und Sierra als Marktführer hatten im Jahr 1990 große Hits mit The Secret of Monkey Island und King’s Quest V. Electronic Arts kriegt von diesem Kuchen nichts ab, aber – es hat auch kein strategisches Interesse an dem Genre. Dann, 1991, sieht Christopher Earhardt eine günstige Gelegenheit, um das zu ändern.
I was the executive producer for the role-playing division at the time, and at EA at that time, we would have weekly executive producer meetings with the board, and we’d bounce ideas around. One of the products just prior to Sherlock Holmes that I did, which was James Pond, was so successful on the Sega Genesis that I kind of had a „Get out of jail free“ card. I wanted to do something that was going to really be unique in that it wasn’t aimed at the mass market, it was aimed at people that really wanted something that was different in the genre. I proposed it, and I storyboarded out a few sequences of what I was talking about.
Ich war der ausführende Produzent für die Rollenspiel-Abteilung. Wir hatten damals bei EA wöchentliche Produktionsbesprechungen mit der Geschäftsführung, bei denen wir Ideen in den Raum warfen. Mein letztes Spiel, James Pond, war auf dem Mega Drive so erfolgreich gelaufen, dass ich eine Art Freischuss hatte. Ich wollte etwas Ungewöhnliches machen, das nicht auf den Massenmarkt zielte. Also schlug ich ein Sherlock-Holmes-Spiel vor, und skizzierte ein paar Szenen.
Earhardts Idee ist weit entfernt von den massenkompatiblen Sport- und Actionspielen, mit denen Electronic Arts erfolgreich Geld verdiente. Entsprechend schlecht kommt der Vorschlag an.
The initial reaction was: „We’re going to lose money on this. No way. This isn’t gonna happen.“ I pointed out to them that the target demographic for that game was something that currently EA was not hitting. And I said, why don’t you let us take it to what we now call a vertical slice, what we used to call a first deliverable prototype, just as a R&D effort, so we can prove it. So I sat down with the outside developer, and we put together something within like eleven days, as a proof of technology, and that was the swing vote, because they realized that we were trying to do, we could actually accomplish. And they said, „Okay, let’s go forward with this.“
Die erste Reaktion war: “Damit verlieren wir Geld. Vergiss es. Das wird nicht passieren.“ Ich wies dann darauf hin, dass die Zielgruppe für ein solches Spiel eine war, die EA momentan komplett verpasste. Und ich sagte: Lasst mich zumindest einen Prototypen machen, als Entwicklungsprojekt, um zu beweisen, dass wir so etwas hinkriegen. Also setzte ich mich mit einem externen Entwicklungsstudio hin, und wir bauten in elf Tagen eine Technologie-Demo. Das war das Zünglein an der Waage, dadurch sah die Geschäftsführung, dass wir das stemmen konnten. Und sie gaben uns grünes Licht.
Christopher Earhardts Prototyp eines Sherlock-Holmes-Spiels erregt das Interesse eines anderen Mitarbeiters bei Electronic Arts, eines jungen Autors namens Eric Lindstrom. Lindstrom arbeitet in der Dokumentationsabteilung von EA als Handbuchschreiber, hat aber auch schon beim Science-Fiction-Rollenspiel Hard Nova als Texter ausgeholfen.
I got wind of that Sherlock Holmes project and walked over to that side of the building to see what was going on. Basically, they were going to make a Clue-like board game with the Sherlock Holmes fiction wrapped over it. I was a big graphic adventure fan and thought, this would be better to be made as an adventure game. And the art they had already created – backgrounds, characters – lend themselves really well for that kind of game.
Ich bekam Wind von dem Sherlock-Holmes-Projekt und ging rüber, um mir das anzusehen. Sie planten eine Art Cluedo-mäßiges Brettspiel mit Sherlock-Holmes-Geschichte drumherum. Ich war ein großer Fan von Grafik-Adventures, und die Hintergründe und Charaktere, die sie schon hatten, passten wunderbar zu dieser Art von Spiel.
Lindstrom übernimmt das, was man heute Concepting nennen würde: Den Entwurf für das Spieldesign, das Szenario und den Storyrahmen rund um die Kernidee einer Mordwaffe, deren Natur schwer zu bestimmen ist. Am Ende steht ein Entwurf, den Eric „Mystery Tree“ nennt – ein Skelett des Handlungsverlaufs samt der Orte und Personen, aber ohne Rätsel und Dialoge.
Um das auszufüllen, holen Eric Lindstrom und Christopher Earhardt einen dritten Mann an Bord, Erics Chef in der Dokumentationsabteilung, RJ Berg. Berg hat zu diesem Zeitpunkt ausschließlich an Handbüchern gearbeitet. Nun wird er Autor und Spieldesigner, von ihm kommen alle Texte und Dialoge. Das eigentliche Spiel aber stammt von einem externen Studio namens Mythos Software.
Mythos Software
Mythos Software ist zu diesem Zeitpunkt noch kein Jahr alt, 1990 gegründet in Phoenix, Arizona im Südwesten der USA. RJ Berg erinnert sich:
The founder of Mythos was a very talented programmer called Jamie Ferguson, I think at the time he was 23, something like that, just out of school, and he was running this little business out of the basement of his house. He had done some contract work elsewhere, but this was certainly the first major project he’d done for a big software publisher.
Der Gründer von Mythos war ein sehr talentierter Programmierer namens Jamie Ferguson. Ich glaube, er war 23 Jahre alt, kam frisch vom College, und er führte dieses kleine Unternehmen aus dem Keller seines Hauses. Er hatte schon vorher Auftragsarbeiten angenommen, aber das war sicher sein erstes großes Projekt für einen großen Publisher.
Ferguson nennt sein Studio Mythos Software – und das Anhängsel „Software“ ist nicht ganz unwichtig, denn zu jeder Zeit gibt es bereits ein Mythos, Mythos Games nämlich, in England, aber es sollte noch vier Jahre dauern, bis die zu Ruhm kommen mit einem Spiel namens UFO: Enemy Unknown. Und wir können auch noch Mythic Entertainment mit in den Topf werfen, das US-Studio hinter den Online-Rollenspielen Dark Age of Camelot und Warhammer Online, das zwar erst 1995 gegründet wurde, aber immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, dass es als einzige der drei mythischen Firmen heute noch existiert.
Es ist Christopher Earhardt, der Mythos an Bord holt.
Jamie Ferguson and I had known each other for a while, we had worked before on several projects before I went to EA, but they were ports. And this was a original. So I knew Jamie, I knew the team, and I knew that Mythos could pull it off, I just had to be their evangelist.
Jamie Ferguson und ich kannten uns schon eine Weile, wir hatten gemeinsam an einigen Projekten gearbeitet, bevor ich zu Electronic Arts ging, aber das waren alles Portierungen. Diesmal ging es um eine Eigenentwicklung. Ich wusste, dass Mythos das durchziehen kann, ich musste sie nur richtig verkaufen.
Das Handbuch zu The Case of the Serrated Scalpel zeigt ein Foto des Teams von Mythos Software: Vier Männer und eine Frau – Eleanor Mavor, die Mutter des Grafikers Scott Mavor -, und wäre sie nicht dabei, könnten die Kerle genauso gut als Roadies für Guns’n‘Roses durchgehen – breite Schultern, fiese 80er-Jahre-Matten auf dem Kopf, Ferguson grinst im Muscle Shirt in die Kamera. Nicht unbedingt die Art Leute, die man mit einem Adventure-Spiel in Verbindung bringt; aber sie erweisen sich laut Eric Lindstrom schnell als gute Wahl.
Mythos were hard-working guys. Really earnest. I thought they were very professional about how their assets were suddenly repurposed. I didn’t realize at the time, but them wanting to develop that Clue game, and Electronic Arts saying, „No no no, we’re gonna turn this into a big graphic adventure“, not only was that being hit broadside in terms of what they wanted to do, it’s also very possible that the terms of their contract didn’t give them a different compensation package. It could be that they had to do a ton more work for the same compensation.
Die Jungs bei Mythos waren harte Arbeiter. Sehr ernsthaft. Ich fand, dass sie sehr professionell damit umgingen, dass ihr Material auf einmal umgewidmet wurde. Mir war das damals nicht bewusst, aber die Tatsache, dass sie ein Cluedo-artiges Spiel entwickeln wollte, und Electonic Arts sagte, „Nein, wir machen ein großes Grafikadventure draus!“, muss eine ziemliche Breitseite für Mythos gewesen sein. Gut möglich, dass sie nicht mal ihren Vertrag nachverhandeln durften, und für das gleiche Geld einen Haufen Mehrarbeit leisten mussten.
Tatsächlich ist The Case of the Serrated Scalpel mit seinem knapp abgesteckten Entwicklungszeitraum, stark begrenztem Budget und engen Deadlines nicht nur für Mythos ein harter Brocken. Auch bei Electronic Arts bläst Christopher Earhardt rauer Wind ins Gesicht.
Every month, I felt like I was playing the Princess Bride, and the dread pirate Roberts was coming going, „Yep, you could die today!“ The entire time the product was being developed there was never any point until it shipped that people were saying, „Oh yeah, we feel comfortable about this.“ It was always, „Yep – we may cancel it, yep – we may cancel it.“
Ich fühlte mich jeden Monat aufs Neue wie die Brautprinzessin, zu der der Greuelpirat Roberts kommt und sagt: „Heute könntest du sterben!“ Während der gesamten Produktionszeit gab es keinen einzigen Zeitpunkt, wo das Management sagte: „Wir fühlen uns gut mit dem Spiel.“ Ständig hieß es: „Wir werden das wohl einstellen.“
Aber es wird nicht eingestellt. The Lost Files of Sherlock Holmes: The Case of the Serrated Scalpel erscheint im Herbst 1992, und Inspector Lestrade lässt Sherlock Holmes und Dr. Watson zu einem Tatort rufen.
Handlung
Der November 1888 liegt sieben Jahre nach dem legendären ersten Treffen zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson und zwei Monate nach der Geschichte „Das Zeichen der Vier“, mithin in einer Zeit, in der Holmes bereits gut etabliert und sehr gefragt ist. Der November 1888 ist gleichzeitig der Höhepunkt der Ripper-Hysterie in London; ein mutmaßlicher Serienmörder unter dem Pseudonym „Jack the Ripper“ hatte im East End von London fünf Prostituierte ermordet, und das zunehmend brutal. Sein vermutlich letztes Opfer, Mary Jane Kelly, wurde mit bis zur Unkenntlichkeit entstelltem Gesicht, geöffnetem Brustkorb und im Zimmer verstreuten Organen aufgefunden. Arthur Conan Doyle, der das als Zeitgenosse miterlebte, hat seinen Sherlock Holmes nie mit dem Ripper in Verbindung gebracht. Das erledigten später umso mehr Nachahmer, darunter auch The Lost Files of Sherlock Holmes: The Case of the Serrated Scalpel.
Als Sherlock Holmes und Dr. Watson Inspector Lestrade im Hinterhof des Regency Theaters treffen, ist der sich sicher, dass vor ihnen das sechste Opfer des Rippers liegt: Die 25jährige Schauspielerin Sarah Carroway. Die Indizien sprechen dafür: Wieder wurde eine Frau ermordet, wieder die Kehle mit einem Skalpell durchgeschnitten und ihr Bauch zerschlitzt, wieder fehlt ihr Schmuck. Alles passt zum modus operandi des Rippers. Dass der Killer bisher nur im weit entfernten Whitechapel gewütet hat – Details, dann hat er eben sein Revier erweitert. Glaubt Lestrade. Aber was Holmes stutzig macht, ist etwas anderes. Die Schnitte stammen zweifellos von einem Skalpell, aber die Wundränder sind nicht glatt, sondern uneben. Die Klinge muss gezackt gewesen sein, oder wie es im Englischen heißt: „serrated“. Ein gezacktes Skalpell? Weder hat der Ripper je so etwas benutzt, noch wird ein Mediziner wie Dr. Watson daraus schlau. „Mir ist kein solches Instrument bekannt“, erklärt er auf Holmes Nachfrage, „ich kann mir keine medizinische Verwendung für eine solche Klinge vorstellen.“
Holmes Misstrauen ist geweckt, und der Tatort voll von Indizien. An den Wundrändern des ersten Schnitts klebt ein weißes Pulver. Hinter einer nahen Kiste ist der Boden voll von Fußabdrücken und Zigarettenkippen. Unweit der Leiche liegt ein zerknülltes Theaterflugblatt, auf dessen Rückseite eine Nachricht gekritzelt ist: „S, triff mich nach der Vorstellung hinter dem Theater, ich habe wichtige Neuigkeiten! B.“ Im Umkleideraum stehen Blumen von einem geheimen Verehrer. Ein Eifersuchtsmord? Holmes hat eine Spur. Die Jagd beginnt.
Warum Sherlock Holmes?
Im Februar 1993 erscheint ein Test zu The Case of the Serrated Scalpel im US-Magazin Computer Gaming World, den ich aus zwei Gründen interessant finde. Zum einen stammt er von Charles Ardai, der damals Kurzgeschichten und Groschenromane verfasste und nebenbei auch für Spielezeitschriften schrieb und heute der Autor und Produzent der Mystery-TV-Serie „Haven“ ist, die in den USA gerade in ihre dritte Staffel geht. Zum anderen arbeitet sich Ardai, bevor er das erste Mal auf das Spiel eingeht, fünf Absätze lang an der Frage ab, warum immer wieder neue Sherlock-Holmes-Spieler herauskommen, obwohl sie sich alle schlecht verkaufen. Ardai folgert:
„Es gibt überhaupt nicht viele Menschen, die die originalen Sherlock-Holmes-Geschichten mögen, aber jeder scheint zu denken, dass alle anderen sie lieben.“
Das ist erst mal eine anmaßende Behauptung, aber in ihr steckt die sehr berechtigte Frage, was Sherlock Holmes für die Menschen eigentlich bedeutet. Um sich das zu vergegenwärtigen: Sherlock Holmes ist noch keine 130 Jahre alt und schon eine mythische Gestalt, in einer Reihe mit Figuren wie Robin Hood, Herkules, Dracula, die jeder kennt – aber woher eigentlich? Wer von den Menschen, die bei Dracula sofort an einen Vampir denken, hat Bram Stokers Roman gelesen? Und: Muss man ihn gelesen haben, um mit Dracula was anfangen zu können? Das Bild von Figuren wie Sherlock Holmes wird nicht mehr durch die originalen Quellen geprägt, sondern durch Überlieferung und Anspielung und Neuinterpretation. Ardai hat ganz recht: Die Tatsache, dass jeder Sherlock Holmes kennt, heißt noch lange nicht, dass ihn auch jeder interessant findet. Aber dass diese Figuren Archetypen geworden sind, heißt, dass es in ihnen einen Kern geben muss, der sie relevant und faszinierend und in gewisser Weise zeitlos macht. Dracula steht für das Sinnliche im Bösen, Robin Hood für das Edle im Unrechten, und so weiter. Also: Wofür steht Sherlock Holmes?
Im Sherlock-Holmes-Roman „Eine Studie in Scharlachrot“ liest Dr. Watson, gerade frisch in die Baker Street 221b eingezogen, einen Artikel, der ihn zu dem Ausruf treibt: “Was für ein entsetzlicher Unfug!” Darin steht der Satz: „Aus einem Tropfen Wasser könnte ein Mensch mit logischem Verstand auf die Möglichkeit eines Atlantik oder der Niagarafälle schließen, ohne sie je gesehen oder davon gehört zu haben. „Den Schreiber möchte ich sehen, wenn man ihn in einen Dritte-Klasse-Wagen der Untergrundbahn steckt und ihn bittet, die Berufe der Mitreisenden zu bestimmen. Ich wette 1000 zu 1 gegen ihn!“, echauffiert sich Watson. „Sie würden das Geld verlieren“, antwortet Holmes, „Der Artikel stammt von mir.“
Das Wassertropfen-Zitat ist eines der bekannteren aus den Originalgeschichten, und es hat den gleichen Tenor wie Holmes‘ wohl berühmtester Ausspruch: „Es ist eine alte Maxime von mir dass, wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es auch sein mag, die Wahrheit sein muss.“
Nun sagt Sherlock Holmes im Verlauf seiner 60 Abenteuer eine ganze Menge Sachen, aber diese Sätze sind hängengeblieben, weil sie verdeutlichen, wofür Sherlock Holmes steht: Für die Macht des logischen Denkens, für das Primat der Rationalität, oder wie es der Eichstätter Literaturwissenschaftler Michael Neumann in einem Essay über Sherlock Holmes nennt: „Die Autorität der Wissenschaft.“ Sherlock Holmes beseitigt Ungewissheit und ordnet die Welt nach der unbestechlichen Ursache-Wirkungs-Logik eines newtonischen Weltbilds. „Die Arbeit von Conan Doyles Detektiv gründet an einem unanfechtbaren Glauben an die Zuverlässigkeit der Wirklichkeit“, schreibt Neumann: „Die Kette der Ereignisse kann nirgends reißen. Wo immer eine Spur gefunden wird, weißt sie unweigerlich zurück auf eine Ursache.“
Das ist, wie wir heute wissen, illusorisch. Aber Sherlock Holmes ist ein Geschöpf der viktorianischen Ära, und die war – ich bin darauf im letzten Podcast schon mal eingegangen – die war eine Zeit der begeisterten Vermessung der Welt, der Technik, des Fortschritts, der Durchrationalisierung des Alltags. Sherlock Holmes ist der Posterboy der Aufklärung: Der pragmatische Forscher, der sich enthusiastisch auf Mysterien stürzt, um sie rigoros zu entschlüsseln. Es gibt nichts Unerklärliches. „Man sollte das befriedende Potenzial dieser Zuversicht nicht unterschätzen“, sagt Michael Neumann. „In einer Welt, in der alles Feste in Fluss geraten ist, bedeutet sie eine ungeheure Beruhigung.“
Aber wie populär solche Symbolfiguren wie Holmes sind, schwankt mit dem Zeitgeist. Als The Case of the Serrated Scalpel 1992 herauskam, war das in einer Zeit vergleichsweise großer Stabilität, der Kalte Krieg war zu Ende, Deutschland wiedervereinigt, im gleichen Jahr rief Francis Fukuyama „das Ende der Geschichte“ aus. Wenn alles glatt läuft, wer braucht da einen Sherlock Holmes? Das war vor den Auswirkungen der Globalisierung, vor dem Internet, vor Handys, vor Asienkrise und Dotcom-Blase, vor Islamisierung und Wirtschaftskrise. Die Wirklichkeit sieht heute auf einmal ganz schön unordentlich und beängstigend aus. Vielleicht erklärt das mit, warum Sherlock Holmes derzeit wieder so präsent ist. Und auch, warum wir heute andere Facetten von Sherlock Holmes in den Vordergrund rücken als vor 20 Jahren.
Denn Arthur Conan Doyle hat seine Figur zwar einerseits als den vollendeten rationalen Denker angelegt, dessen Brillanz aber andererseits durch persönliche Abgründe erkauft ist. Doyles Holmes ist kein hilfsbereiter Gentleman-Detektiv, sondern ein ziemlich anstrengender Charakter, Kettenraucher, lethargisch, der sich, um der quälenden Langeweile zu entgehen, Heroin spritzt und in Depression versinkt. „Mein Leben ist ein einziger langer Versuch, den Banalitäten des Alltags zu entkommen“, seufzt Holmes in der Geschichte „Die Liga der Rothaarigen“. Fälle verfolgt er mit selbstzerstörerischer Energie, ohne zu essen, ohne Schlaf, auch ohne Rücksicht auf Gesetze oder die Befindlichkeiten anderer Menschen. Holmes täuscht und manipuliert, wenn es sein muss, und die Konsequenzen sind ihm ziemlich gleichgültig. Arrogant ist er sowieso. Das alles hört sich jetzt an wie eine Zusammenfassung von Gunnar Lotts Memoiren „Meine Zeit als GameStar-Chefredakteur“, aber mit dem Unterschied, dass Sherlock Holmes bekanntlich keinerlei Interesse an Frauen hatte.
Der Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle ist also zumindest in den Anlagen ein Getriebener, ein ambivalentes Genie. Was machen die Computerspiele aus dieser Figur?
Sherlock Holmes als Charakter
Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Interview mit einem Kampfsportler geführt, und der erzählt viel von Disziplin und Konzentration und Achtsamkeit, und fasste das in dem Satz zusammen: „Kampfsportler stellen Kaffeetassen so auf den Tisch, dass sie nicht herunterfallen.“ Das hat mich sehr beeindruckt, weil ich tendenziell der Typ bin, dem schon mal Tassen vom Tisch kippen. Was der Mann beschrieb ist eine absolute Kompetenz, die sich durch alle Bereiche des Lebens zieht, bis hinunter zu der Fähigkeit, Kaffeetassen sorgsam auf Tischen abzustellen – eine Kompetenz, die frei ist von den Fehlern und Schusseligkeiten normaler Menschen. Das ist auch die Faszination von Sherlock Holmes.
Holmes steht für das Ideal eines Menschen, der weiß, was er tut, der jede Situation meistert und in der Lage ist, seine Ziele zu verwirklichen, dem man sich also bedenkenlos anvertrauen wollte, analog etwa zu James Bond. Die Kompetenz von Holmes speist sich aus seiner überragenden Intelligenz, seiner legendären Beobachtungsgabe und nicht zuletzt seinem Vorwissen – Holmes hat, wie wir aus den Geschichten wissen, unter anderem Monografien über 160 verschiedene Geheimschriften, über die Bestimmung von Tätowierungen oder die Datierung von Dokumenten verfasst. Das alles macht Sherlock Holmes zu einem so überlegenen Menschen, dass es großes Staunen bereitet, ihn in passiven Medien wie Büchern, Filmen oder TV-Serien beim Handeln zu beobachten. Was aber, wenn man selbst in seine Rolle schlüpfen soll?
Nun machen Spiele ihre Spieler ja ständig zu übermenschlichen Figuren, man denke nur an all die Shooter-Krieger, die im Alleingang ganze Armeen niedermähen. Aber physikalische Attribute zu simulieren ist einfach – wenn man den Spieler in den Körper einer virtuellen Person steckt, dann kann man ihm problemlos das Gefühl geben, schneller laufen zu können, höher zu springen oder zehn Kugeln wegzustecken. Bei Sherlock Holmes geht es um geistiges Können. Ein Leser muss nicht schlau sein, um Holmes Fälle zu verfolgen, da lässt man sich überraschen, aber in Spielen wird man zum Handelnden, man ist für den Fortschritt verantwortlich, und das führt zur einer ziemlich frustrierenden Kluft zwischen der Fiktion und dem Spielverlauf – was ist, wenn der Spieler an einer Situation hängt, die für Holmes eigentlich banal sein müsste? Was, wenn er einen Fehler macht, etwas übersieht, das Holmes niemals entgangen wäre? Wie lässt es sich mit der Illusion von Sherlock Holmes als Genie vereinbaren, wenn er auf einmal von einem echt dummen Menschen kontrolliert wird?
Das mag nach einer akademischen Frage klingen, aber tatsächlich ist es das grundlegende Dilemma, warum die meisten Sherlock-Holmes-Spiele nicht funktionieren – weil die Erwartung an ein Abenteuer mit Sherlock Holmes ist, große Kompetenz zu erleben, aber in Wirklichkeit besteht der Großteil von Adventures allzu oft aus Ratlosigkeit und schierem Herumprobieren, also aus dem blanken Gegenteil von dem, was Sherlock Holmes ausmacht.
Den Designern von Sherlock-Holmes-Spielen ist das durchaus bewusst. Eine der offensichtlichen Lösungen ist es, den Spieler einfach nicht Sherlock Holmes spielen zu lassen, sondern Dr. Watson. Das Infocom-Textadventure Sherlock: The Riddle of the Crown Jewels von 1987 macht das so. Darin stiehlt Holmes’ Erzfeind Professor Moriarty die Kronjuwelen aus dem Tower von London und schickt Sherlock Holmes eine Serie von Rätselbotschaften, die Hinweise auf ihr Versteck geben. Holmes vermutet eine Falle und ersinnt deshalb flugs einen Kniff: Statt ihm soll Watson die Ermittlungen führen, denn damit rechnet Moriarty sicher nicht. Fortan trottet einem der Meisterdetektiv durch London hinterher, grummelt und steuert ab und zu Bemerkungen bei, hält sich aber ansonsten raus. Das ist zwar eine reizvolle Konstellation, hat aber nicht mehr viel mit Sherlock Holmes zu tun, und natürlich vermittelt es dem Spieler erst recht nicht das Gefühl, besonders schlau zu sein.
Der zweite Teil von The Lost Files of Sherlock Holmes, Das Geheimnis der tätowierten Rose, beginnt genauso: Wieder steuert man Watson, nachdem Holmes aus Gram über seinen schwer verwundeten Bruder in eine Depression verfallen ist. Im Gegensatz zum Infocom-Sherlock ist das nur eine kurze Auftaktphase, bevor man dann doch den Meisterdetektiv übernimmt. Aber es ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie sich eine narrative Idee in der Spielmechanik widerspiegelt. Watson findet an den Schauplätzen, die er besucht, nur eine Handvoll interessanter Punkte. Sobald Holmes am Steuer ist, erweitert sich die Zahl der Hotspots deutlich – so impliziert das Spiel elegant, dass Holmes ein sehr viel aufmerksamerer Beobachter ist als Watson.
Eine andere Lösung für das Kompetenzproblem ist es, den Spieler an bestimmten Punkten des Spiels abzufragen – also zu prüfen, ob er sich die gesammelten Informationen gemerkt und Schlüsse daraus gezogen hat. Ein Vertreter dieser Gattung sind die Sherlock Holmes: Consulting Detektive-Episoden von ICOM, deren Fälle jeweils aus einigen Dutzend Filmszenen von Unterhaltungen und Verhören zusammengesteppt sind und in eine Gerichtsverhandlung mündet, in der der Spieler Fragen nach dem Täter und seinem Motiv beantworten muss. Das Interessante an den ICOM-Titeln ist, dass sie keinen festgelegten Ablauf haben. Ich entscheide selbst, wen ich in welcher Reihenfolge befrage, welchen Spuren ich folge und wann ich vor den Richter trete – es gibt keine Sackgassen. Dieses Konzept kommt echter Detektivarbeit am nächsten und entlässt den Spieler im besten Fall mit dem erhebenden Gefühl, die richtigen Schlussfolgerungen getroffen zu haben. Es ist aber auch die über weite Strecken passive Erfahrung eines interaktiven Films, in der man einem Holmes-Schauspieler zusieht, anstatt selbst Holmes zu sein.
Aber vermutlich ist das die Natur von Adventures, selbst dann, wenn man den Hauptcharakter selbst steuert. Ich habe an andere Stelle in den Stay-Forever-Podcasts schon einmal meine Ansicht erwähnt, dass Adventures wie Bühnenstücke funktionieren, in denen man als Regisseur Handlungsanweisungen gibt. Die Figuren reden und interagieren, und wir beobachten und leiten daraus die nächsten Schritte ab. In einer solchen Konstellation muss der Spieler kein eigenes Wissen einbringen, er muss das handelnde Personal nur dazu bringen, ihr Wissen mit ihm zu teilen. Ist ja nicht so, dass wir da auf einmal auf der Bühne stehen und etwas sagen sollen, das wir Dialogzeilen selbst eintippen würden. Wir betrachten die Szene aus dem Zuschauerraum und rufen Sherlock Holmes zu: „Durchsuch mal die Kommode da und sag mir, was du findest!“ Eric Lindstrom beschreibt das Prinzip so:
Sherlock Holmes knew a lot more than you, not just because he was smarter, but also because he had investigated 117 different types of cigarette ash and whatnot. How do we elevate the player? I solved this problem through the dialogue structure. Through the way how Holmes would speak and ask his questions, we could give the players an onramp to what he wanted to know. You heard Holmes say it, and you read it and though: „Okay, I know that now“.
Sherlock Holmes weiß sehr viel mehr als du, nicht nur, weil er schlauer ist, sondern auch, weil er 117 verschiedene Arten von Zigarettenasche untersucht hat. Wie heben wir den Spieler auf das Niveau von Holmes? Ich habe dieses Problem durch die Dialogstruktur gelöst. Holmes referiert und stellt Fragen, und dadurch bekommt der Spieler die Informationen, die er benötigt. Man hört Holmes etwas sagen, liest es und denkt: „Okay, jetzt weiß ich das auch.“
In The Case of the Serrated Scalpel betritt Sherlock Holmes einen zwielichtigen Pub in Covent Garden namens Moongate – wer sofort an Ultima gedacht hat, virtuelles High Five! –, und findet den Schankwirt unkooperativ vor. Was jetzt? Nun, Holmes macht das, was er am besten kann: Er beginnt sich umzusehen. An der Wand hängt ein Gemälde, das den Wirt auf einem Elefanten reitend zeigt, in der Uniform eines Mitglieds der First Bangalore Fusiliers im ersten Dienstjahr, datiert 1865. Eine Schlangenhaut als Wanddekoration stammt von der indischen Kobra; vermutlich hat der Wirt sie aus Indien mitgebracht. Ein kleineres Bild auf dem Tresen zeigt ihn neben einer Frau, vermutlich seiner Mutter, bei der Feier zu Ehren Queen Victorias 30. Thronjubiläum im Jahr 1867, in der Uniform eines Kontrolleurs der Untergrundbahn. Das genügt, um den Wirt zum Reden zu bringen. Denn Sherlock Holmes weiß Dinge über die First Bangalore Fusiliers, die der Spieler aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in petto hat – nämlich, dass sie niemals weniger als fünf Jahre im Einsatz waren, und nur Tod oder unehrenhafte Entlassung diese Zeit verkürzen konnten. Wenn aber der Wirt 1865 seinen Dienst in Indien angetreten hat, zwei Jahre später als Kontrolleur in London gearbeitet hat, und eindeutig nicht tot ist – dann muss er unehrenhaft ausgeschieden sein. Diese pikante Information lässt sich trefflich gegen ihn einsetzen.
Wie immer bei Sherlock Holmes klingt das lächerlich simpel, und tatsächlich ist es im Spiel eine Sache von drei, vier Klicks und einer halben Minute, aber es ist ein gutes Beispiel für kollaboratives Handeln zwischen Spieler und Spielfigur – der Spieler entdeckt und zeigt, Holmes untersucht und kommentiert, gemeinsam führen sie die Logikkette zum Abschluss, und wenn Holmes den frechen Wirt dann am Schlawittchen hat, übertragen gesprochen, dann strahlt diese Kompetenz, die er bewiesen hat, auf beide ab. Und es passt, nebenbei gesagt, auch wunderbar zu Sherlock Holmes, der im Moongate Pub genau das macht, was man von ihm erwartet: Beobachten, deduktiv schlussfolgern, sein überlegenes Wissen einbringen und dann damit einen widerspenstigen Zeugen in die Ecke treiben.
Diese Erwartungshaltung an den Charakter ist für ein Adventure wie The Lost Files of Sherlock Holmes Segen und Fluch. Einerseits lenkt man Holmes‘ Blick am Tatort auf einige Zigarettenstummel hinter einer Kiste, und Holmes haut mal eben raus: „Der Raucher war ein Mann und trug schwere Stiefel oder Arbeitsschuhe. Die Marke ist gewöhnlich und wird von Tausenden von Londonern geraucht. Der Länge der Stummel nach zu urteilen weisen die Finger des Mannes nahezu sicher Nikotinflecken auf.“ Bam! Großartig!
Andererseits führt das eine Minute später zu Situationen wie der im Umkleideraum des Regency Theaters. Nachdem Holmes den Tatort inspiziert hat, sieht er sich in der Garderobe um, deren Tür auf den Hinterhof hinaus führt. Dort erzählt Carruthers, der Inspizient des Theaters, Lestrade habe die Vermutung, dass Sarah Carroway hier innen überfallen und nach draußen geschleppt wurde, um sie dort zu ermorden. Holmes entgegnet, Lestrade habe ja viele fantasievolle Theorien, aber diese sei eindeutig falsch. Carruthers fragt ihn, woran er das festmacht.
Was dann folgt, ist interessant, denn an dieser Stelle – und nur hier, das einzige Mal im ganzen Spiel – erlaubt das Spiel dem Spieler, Holmes eine Antwort in den Mund zu legen, indem er aus mehreren Lösungen eine auswählt. Es gibt drei Optionen, worauf Holmes verweisen kann:
• Auf den Blumenstrauß auf der Kommode
• Auf die Position des Damenhuts
• Auf die Tatsache, dass der Kleiderschrank geschlossen ist.
Richtig ist der Hut, der draußen neben der Leiche lag – wäre Sarah innen überfallen worden, hätte sie sich sicher keinen Hut aufgesetzt. Sie muss selbst nach draußen gegangen sein.
Nun sind solche kleinen Auswahltests ein Standardelement von Adventure-Dialogen, nichts Besonderes. In einem Sherlock-Holmes-Spiel führen sie aber zwangsläufig dazu, dass der Held Unsinn erzählen kann, dass er herumrät. In dem Fall bringt das Holmes in die peinliche Lage, dass er sich von einem popeligen Theaterinspizienten korrigieren lassen muss, wenn man die falsche Antwort wählt. Und Watson schreibt das auch noch alles mit!
Sprich, wenn ein Spiel einen so klar definierten Charakter wie Sherlock Holmes als Protagonisten nimmt, und diesen Charakter offensichtlich vorlagengetreu einsetzt, ohne Experimente, dann schafft das eine enorme Fallhöhe, diesem Anspruch gerecht zu werden. Das wird nirgends so sehr deutlich wie bei den Aufgaben, vor die das Spiel Holmes stellt. Was macht Sherlock Holmes eigentlich, um einen Fall zu lösen? Die Frage ist nicht trivial. Eric Lindstrom schildert das Grundproblem:
The stories don’t quite play the same way as they do now. They are not whodunnits. Whodonnits became very popular later. There’s really is very little ability for a reader to figure out who did it, because they weren’t designed that way. Sometimes the criminal wasn’t even in the story. It was just an unfolding adventure story told through Watson’s point of view.
Die Geschichten funktionieren nicht so, wie wir das heute gewohnt sind. Sie sind keine Krimis, Krimis wurden erst später populär. Die Leser haben praktisch keine Möglichkeit, selbst herauszufinden, wer der Täter ist. Manchmal taucht der Täter nicht mal in der Handlung auf. Es sind Abenteuergeschichten, erzählt aus der Perspektive von Dr. Watson.
In der typischen Sherlock-Holmes-Geschichte packt der Meisterdetektiv, nachdem ein Besucher das Problem geschildert hat, seinen Hut und rennt aus dem Haus, und Dr. Watson bleibt zurück. Irgendwann in der Nacht kommt er zurück, gern mal in absurder Verkleidung, und hat den Fall gelöst. Holmes schildert dann zwar die Lösung, aber selten den Prozess, der ihn dorthin geführt hat. Die Geschichten deuten schon mal an, dass er sich zum Beispiel an der Themse unter Flussschiffern herumgetrieben hat, aber was genau Holmes dort tat, bleibt im Dunkeln.
Das ist eigentlich eine reizvolle Ausgangslage, weil Adventures wie The Lost Files of Sherlock Holmes große Freiheit darin haben, den Alltag des Detektivs auszugestalten. Aber die beiden Lost Files machen daraus leider die typische Adenture-Konstellation, dass man künstliche Hindernisse überwinden muss, und zwar erschreckend banale. Zum Beispiel steht vor dem Scotland-Yard-Gebäude ein Wachtmeister und lässt Sherlock Holmes nicht hinein, Begründung: „Neue Sicherheitsvorschriften“. Da krieg ich schon die ersten Pusteln, aber gut, da denkt man sich, eigentlich eine schöne Gelegenheit, um mal zu demonstrieren, wie ein patenter Kerl wie Sherlock Holmes so ein Alltagsproblem beiseite wischt. Staucht er ihn halt zusammen oder wickelt ihn kurz um den Finger oder sowas. Aber was das Spiel stattdessen zeigt, ist genau das Gegenteil, nämlich dass Sherlock Holmes an dem Wachmann scheitern. Er kommt nicht rein. Er muss ins Leichenschauhaus fahren und sich dort bei Inspector Gregson beschweren, damit der für ihn den Wachmann zurückstutzt.
Sherlock Holmes schlägt sich in den beiden Lost Files zu häufig mit solchen Kinkerlitzchen herum. Wenn man in Scotland Yard drin ist, dann will natürlich der diensthabende Offizier Inspector Lestrade nicht ausrufen. Da muss man allen Ernstes zum Straßenhändler draußen gehen und aus dem herauspressen, dass der Sergeant anfällig für Komplimente ist. Im zweiten Teil, das Geheimnis der Tätowierten Rose, wird das noch viel schlimmer. Darin verbringt Holmes – und damit der Spieler – mindestens ein Viertel des gesamten Spiels damit, an irgendwelchen Butlern oder Vermieterinnen oder Empfangsdamen vorbeizukommen, und das heißt auch, dass er sich systematisch von Bediensteten und schwer erträglichen Figuren wie der keifenden Oberschwester im St-Bart‘s-Hospital demütigen lässt, weil man in der Mehrheit der Fälle erst mal unverrichteter Dinge wieder abreist. Holmes muss natürlich auch zu Scotland Yard, und davor steht ein Wachmann, und jetzt raten Sie mal, was der sagt. Nee, ich sag’s nicht, da müssen Sie jetzt selber drauf kommen. Den Tiefpunkt erreicht das Spiel in Cambridge, wo Holmes sein altes Studentenwohnheim besucht, um mit dem Pförtner zu sprechen, aber als man ankommt, schläft der mit dem Kopf auf der Theke. Er schläft. Und die Aufgabe für Holmes lautet: Weck ihn auf. Entschuldigung, einen schlafenden Mann aufwecken? „Sherlock Holmes und das Geheimnis des schlummernden Pförtners“?! Diese Art von „Rätsel“ schafft meine tote Oma, dafür brauche ich keinen Meisterdetektiv! Ich verrate trotzdem kurz, wie der Fachmann das löst, da kann man sich ja was abschauen für das nächste Mal, das man selbst in so einer Situation steckt: Holmes schickt Watson los, um Bier zu holen. Das stellt man neben den Pförtner auf die Theke. Vom Biergeruch wird der wach.
Ich muss noch schnell eine andere misslungene Szene aus The Case of the Serrated Scalpel erzählen. Da steht Sherlock Holmes am Zaun hinter einer Abteischule und versucht, mit einem der Schuljungen zu reden, die dort im Hof spielen. Dazu muss er einen Kreisel hochhalten, um den Jungen anzulocken. Also: Kreisel besorgen, Kreisel benutzen, Rätsel gelöst. In Adventure-Logik macht das Sinn, aber versetzen wir uns kurz in Holmes-Logik, wenn man keinen Kreisel dabeihat: Man steht da am Zaun, und dann denkt sich Holmes: „Da ist ja der Junge, den ich suche, aber wie mach ich den jetzt auf mich aufmerksam? Ja … keine Ahnung. Geh ich mal wieder weg.“ Was ist mit Winken? Herrufen? In die Schule reingehen? Stattdessen muss man nen Scheißkreisel hochhalten! Ja, Adventures sind so, aber wir reden hier von Sherlock Holmes, verdammt noch mal: Holmes ist effizient und kreativ, direkt und unnachgiebig. Der rennt nicht wegen Kleinkram durch die Gegend, vor allem verschwendet er keine Zeit.
Es ist diese Diskrepanz zwischen dem Mythos Holmes und der Spielfigur Holmes, zwischen dem, wie die Spiele Holmes darstellen und wie sie ihn einsetzen, der dazu führt, dass sie keine überzeugenden Interpretationen des Stoffs sind, und leider auch keine gelungenen Detektivspiele.
Das ist umso bedauerlicher, weil die beiden Lost Files manchmal, in einigen Situationen, auch die kurzentschlossene Seite von Sherlock Holmes zeigen, den Action-Sherlock. Arthus Conan Doyles Holmes ist ja nicht nur der kühle Denker, sondern auch und insbesondere ein Mann der Tat. In einer der besten Szenen von The Case of the Serrated Scalpel stehen Holmes und Watson vor dem abgeschlossenen Büro eines Privatdetektivs, die Zeit drängt, und statt lange nach einem Schlüssel zu fahnden, packt Holmes eine herumstehende Schreibmaschine und schmeißt sie durch die Scheibe der Tür. Noch schöner finde ich aber den Moment gegen Ende des zweiten Teils, wo ein Verdächtiger einen Schlüssel in ein Aquarium mit Giftfischen wirft. Anstatt ihn da irgendwie rauszuangeln, zieht Holmes eine Pistole und schießt das Ding in Stücke, scheiß auf die Fische, was zählt ist der Schlüssel, und dass der Verdächtige geschockt danebensitzt, fühlt sich doppelt gut an. Diese Lösung ist eine wunderbar lakonischer Kontrapunkt zu all den mühsamen Klaubereien, die sich Holmes vorher zugemutet hat, so als habe auch er irgendwann mal die Schnauze voll, und man hat das Gefühl, in diesem Moment mehr über Sherlock Holmes‘ Wesen erfahren zu haben als in all den Stunden davor. Es ist ein versöhnlicher Augenblick, aber er kommt reichlich spät.
Das viktorianische London
Es gibt dafür eine andere Sache, die beide Lost-Files-Spiele sehr gut machen. Man könnte sagen, dass sie einen zweiten Helden neben Sherlock Holmes haben, etwas anderes, das im Mittelpunkt steht. Und das ist die Stadt: das viktorianische London.
The Case of the Serrated Scalpel eröffnet mit einer Stadtansicht von London, und dieses London ist ein schmutziger, düsterer, ungemütlicher Ort. Im Halbdunkel hasten Passanten über das klatschnasse Pflaster der Oxford Street in Mayfair, mühsam schält sich aus dem Smogschleier der Big Ben, dessen Zeiger sechs Uhr zeigen. Im Hintergrund spucken Schlote Kohlerauch in die Luft, hinter den zugezogenen Vorhängen der Häuser flackert der Schein der Gaslichter, und ihr rotwarmes Licht verschärft den Kontrast zum nasskalten, dreckigen Draußen. Es ist November im Jahr 1888.
We wanted to have this thing to have an atmosphere. Because the other games very all very cartoonish, very fantastical. We wanted this thing to basically be grimy. We wanted it to have a feeling like people were burning coal, and you could tell when you were walking down the streets. Exactly historically what accuracy was for that period of time.
Wir wollten diese Atmosphäre, weil die anderen Adventures fast immer cartoonig, fantastisch waren. Wir wollten ein schmutziges Spiel. Wir wollten, dass man fühlt, dass die Leute Kohle verbrennen, dass man es sieht, wen man durch die Straßen läuft. Genau so, wie es um diese Zeit in London eben war.
Im 19. Jahrhundert ist London die größte Stadt der Welt, und vor allem die am schnellsten wachsende Metropole der Welt – in den 50 Jahren zwischen 1810 und 1890 vervierfacht sich die Einwohnerzahl von einer auf vier Millionen. Dieser massive Zuzug an Menschen und ihre Mischung – die meisten kommen im Zuge der Industrialisierung vom Land, viele aber auch aus den Kolonien des Empires in Indien und Afrika – führt zu katastrophalen Verhältnissen und extremen sozialen Gegensätzen. Im West End Londons stehen die Herrenhäuser der Wohlhabenden, im East End ziehen sich die Slums, in denen später Jack the Ripper wütet. London ist ein unangenehmer Ort für alle Einwohner, die Luft fast ständig grau vom Kohlerauch, die Straßen voll von Unrat und Pferdemist, verstopft von ständigen Verkehrsstaus. Bis 1954 brechen mehrmals Cholera-Epidemien in der Stadt aus, verursacht durch erbärmliche hygienischen Bedingungen. Verbrechen ist an der Tagesordnung. Bis 1829 gibt es in London keine städtische Polizei, bis 1842 keine Kriminalbeamten, und erst 1878 wird formal das Criminal Investigation Department eingerichtet, das man gemeinhin als Scotland Yard kennt.
Die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen die Polizei sind enorm, Polizeiarbeit wird als Affront gegen die Bürgerrechte angesehen und als Schnüfflerei und Schikane durch die Regierung. Diese Vorbehalte hallen auch noch in Arthur Conan Doyles Geschichten nach, wenn sie Inspector Lestrade und seine Kollegen von Scotland Yard als Dilettanten darstellen. Tatsächlich ist die Polizeiarbeit zu jeder Zeit mäßig organisiert und fehleranfällig. E.J. Wagner schildert in ihrem Buch „The Science of Sherlock Holmes“ einen Kindermord aus dem Jahr 1860, bei dem die hinzugerufene Polizei einen blutigen Handabdruck von einem Fenster wischte, um die Familie nicht zu verstören, auf eine Durchsuchung der Schränke verzichtete, um nicht in die Privatsphäre der Familie einzudringen, und vorsorglich die Magd verhaftete, nur um sie aus Mangel jeglichen Verdachts wieder freizulassen. Bei den Ripper-Morden knapp 30 Jahre später sind zahlreiche ähnliche Fehler und Falschinterpretationen dokumentiert. Zu Sherlock Holmes Zeiten existieren keine standardisierten Ermittlungsmethoden, schon gar keine Forensik, selbst etwas heute so Selbstverständliches wie die Suche nach Fingerabdrücken wird erst um die Jahrhundertwende zur Standardpraxis. Sherlock Holmes‘ wissenschaftliche Ermittlungsmethoden, seine rigorose Erfassung von Spuren und Indizien ist schiere Avantgarde.
Dieses vollgepackte, sozial explosive London mit seinen krassen Gegensätze zwischen dem Elend der Unterschicht und dem Prunk, der Gediegenheit und den Manierismen der Oberschicht bildet also die Kulisse für die Sherlock-Holmes-Abenteuer, aber während allzu viele Sherlock-Holmes-Interpretationen sich auf das bürgerlich-biedermeierliche London beschränken, führen die Lost-Files-Spiele in beide Welten. Und das vor allem in der Wahl der sehr atmosphärischen Schauplätze.
Wenn Holmes in The Case of the Serrated Scalpel zum Beispiel Belle’s Parfümerie aufsucht, dann betritt er einen weitläufiges Upper-Class-Geschäft mit holzgetäfelten Wänden hinter langen Glasvitrinen, Mannequins mit Abendroben und Seidenkleidern, einer breiten Treppe zum Obergeschoss mit umlaufender Balustrade, alles warm angestrahlt von den Gaslüstern an der Decke. In einem Straßenzug in Shoreditch in Osten von London sind Holmes und Watson überrascht, ein prächtiges Stadthaus vorzufinden – das Spiel deutet es nur an, aber Shoreditch ist im 19. Jahrhundert ein verarmtes Industrieviertel. So bewundern Holmes und Watson den Klinkerbau mit seinen großen Bleiglasfenstern, den gusseisernen Geländern vor den Balkonen, dem stuckverzierten Vorbau mit seinen schweren Säulen. Eine der hübschesten Szenen spielt in der Chancery Opera, wo man die Besitzerin in ihrer Loge befragt, während unten im Bühnenraum die Aufführung startet: Die Protagonistin stürzt auf die Bühne, fällt auf die Knie und fängt flehend an zu singen; der Held stürzt herbei und hilft ihr Arien schmetternd auf die Füße. Da taucht am rechten Bühnenrand der freche Nebenbuhler auf, die Dame eilt zu ihm, dann eine Weile zwischen den Männern hin und her, die sich wild gestikulierend ansingen.
Die ärmeren Schauplätze gelingen den Lost-Files-Spielen weniger überzeugend, aber immerhin spielen sie eine Rolle – im heruntergekommenen Apartment der ermordeten Sarah Carroway mit seinen zerschlissene Vorhänge und abgewetzte Tapeten fragt Sherlock Holmes, „Was schließen Sie aus diesem Raum, Watson?“, und Watson antwortet: „Dass Schauspielerei kein lukrativer Beruf ist.“ Das Geheimnis der tätowierten Rose führt in die vermüllte Behausung eines Flussschiffers ebenso wie in die Slums von Spitalfield, wo den distinguierten Herren Holmes und Watson offene Feindseligkeit entgegenschlägt.
Holmes Spurensuche führt quer durch London, von Pfandhäusern zu Edelboutiquen, von zwielichtigen Billardsalons in Anwaltskanzleien, von Studentenbuden in die Stadthäuser des Adels, und stets bildet die Stadtkarte von London den Mittelpunkt, die sich um immer neue Schauplätze erweitert. Ich las damals die Power Play, und in deren Test zu The Case of the Serrated Scalpel waren vier Screenshots der Karte abgebildet, auf der viele Orte schon freigespielt waren; und als ich später selbst das Spiel spielte und feststeckte, dann kramte ich die Ausgabe heraus, starrte auf die Karte und versuchte anhand der Symbole zu erschießen, was das wohl für Schauplätze waren und wie man zu ihnen gelangen könnte. Es war wie eine Schatzkarte in dieses aufregende, geheimnisvolle Reich namens London.
Die Lost Files führen nicht nur geographisch durch die Stadt, sondern auch sozial, und das zwar nicht tiefschürfend, aber immerhin recht glaubhaft. Ihr Personal reicht von den versoffenen Cockney-Sprechern im Pub in Covent Garden bis zur kühlen Arroganz und perfekten Etikette der Londoner Upper Class. Natürlich gibt Holmes seine Karte ab, wenn er bei Häusern vorstellig wird, wo Bedienstete die Türen öffnen und oft so steif und hochnäsig sind wie ihre Herrschaften. Mitunter gelingen dem Spiel pointierte Beobachtungen, etwa wenn Holmes die Statue betrachtet, die Lord Brumwell in der Empfangshalle seiner Villa hat aufstellen lassen, und trocken kommentiert: „Eine glänzende Marmorkopie des hellenistischen Meisterwerks „Der Tod des Laokoon und seiner Söhne“. Das Original befindet sich im vatikanischen Museum und ist etwas kleiner als dieses hier.“ Im Nachfolger Das Geheimnis der tätowierten Rose kehrt man übrigens in eben jenes Haus zurück, in dem nun statt der Brumwells die Fanshawes residieren, und Lady Fanshawe – geschmacklos, aber dekorationsbegeistert – hat die Statue anmalen lassen.
Spielablauf und Qualität
The Case of the Serrated Scalpel ist ein Detektivspiel, und als solches stehen in ihm das Sammeln von Informationen durch Befragung, Beobachtung und Analyse im Mittelpunkt. Eine der Spuren von der ermordeten Sarah Carroway führt zum Beispiel zu einem Verdächtigen, von dem man nur weiß, dass er ein Spieler im Kensington Rugby Club ist. Aber welcher? Der Trainer ist nur dann bereit, einen seiner Spieler aus dem Training zu rufen, wenn man ihn beschreiben kann. Holmes muss diese Informationen aus mehreren Quellen zusammentragen. Manche Spuren entpuppen sich auch als Sackgassen; Sarah Carroway hatte zum Beispiel in der Tat einen heimlichen Verehrer, der aber, wie sich schnell herausstellt, mit dem Mord nichts zu tun gehabt haben kann.
Natürlich ist der Mord an der Schauspielerin komplizierter, als es zunächst den Anschein hat, und am Ende verweben sich mehrere parallele Mysterien zu einem großen Ganzen – und übrigens zu einem Motiv, das sich ausnahmsweise nicht um Geld oder Macht oder Eifersucht dreht, sondern um eine sehr private Familientragödie als Konsequenz der verkrusteten Standesdünkel jener Ära. Diese Bodenständigkeit ist dem Spiel anzurechnen, gerade auch im Kontrast zum aufgeblasenen Nachfolger. Der aufgefächerte Plot und die Vielzahl der Spuren, gepaart mit Holmes Bewegungsfreiheit zwischen den Schauplätzen in London, führen zu einer motivierenden Wahlfreiheit, welchem Problem man als nächstes nachgehen möchte; wer an einer Stelle nicht vorankommt, hat meist die Möglichkeit, eben erst mal eine andere Spur zu verfolgen.
The Case of the Serrated Scalpel führt zudem das ein, was fast alle späteren Holmes-Spiele kopieren, nämlich dass sich Holmes in der Baker Street hinter seine chemischen Apparate klemmt und dort Wässerchen mischt und Spuren analysiert. Das unbekannte Pulver an Sarah Carroways Wunden erhitzen wir zum Beispiel mit Schwefelsäure und Zink, prompt weist ein schwarzer Niederschlag am Glasrand darauf hin, dass es sich um Arsen handelt. Leider benutzt das Spiel die auflockernde Mischerei nur genau zweimal – eine verschwendete Chance.
Es ist einer von vielen Patzern, die dazu führen, dass The Case of the Serrated Scalpel als Adventure-Spiel nur mittelmäßig funktioniert. Die größte Enttäuschung ist, dass das Spiel die Offenheit und Untersuchungsbreite, die in der Handlung angelegt ist, mit extrem unflexiblen Lösungswegen konterkariert. The Case of the Serrated Scalpel ist eines jener „Geht nicht!“-Adventures, die für jede Aktion, die nicht die vom Designer gewünscht ist, nichts als kaum verhohlene Verachtung übrig haben. Bei all dem Detailreichtum seiner Kulisse bleibt der eigentliche Spielablauf ernüchternd funktional und in gewisser Weise steril, und das beginnt bei so Kleinigkeiten wie der Tatsache, dass einen praktisch niemand im Spiel grüßt, und endet damit, dass das Spiel letztendlich doch ein sehr lineares Abarbeiten von Aufgaben ist, schon allein weil die meisten Schauplätze überhaupt nur vier oder fünf Hotspots haben. Im einem vollgestopften Tabakwarenladen, den man besucht, gibt es zum Beispiel genau drei Aktionspunkte – den Jungen hinter der Theke und die beiden Dinge, die man im Laden benutzen muss. Da käme selbst Dr. Watson auf die richtige Lösung.
Dazu kommen gelegentlich unlogische Situationen. Das Blumenmädchen Leslie in Covent Garden hat zum Beispiel einige ihrer Sträuße in einem Metallnetz in ein Wasserfass gehängt, damit sie frisch bleiben, und natürlich protestiert sie, wenn man den Stopfen aus dem Fass ziehen will. Die richtige Lösung ist, die Blumen aus dem Fass zu nehmen, wegzuschmeißen und den Drahtkorb zu klauen. Das ist Leslie offenbar wurscht. Hauptsache, der Stopfen ist drin.
Interessanterweise wird The Case of the Serrated Scalpel in dem Maße spannender und auch flüssiger, indem es die Aktionsbreite im Spielverlauf zunehmend einschränkt. Gegen Ende hin legen das Tempo und die Dramatik zu, und der ersten Leiche fügen sich weitere hinzu. An mehreren Schlüsselstellen belohnt das Spiel seine Spieler mit überraschenden und actionreichen Zwischensequenzen, die damals – gerade für Adventure-Niveau, das ja als eher statisches Genre gilt – sehr beeindruckend waren und auch heute noch hübsch anzusehen sind.
Inszenierung / Technik
Überhaupt, die Technik. The Case of the Serrated Scalpel kleckert nicht, es klotzt. Es kommt auf neun 3,5 Zoll HD-Disketten und entpackt 29 Megabyte auf die Festplatte. 29 Megabyte? Im Jahr 1992 hat die durchschnittliche PC-Festplatte 100 MB Speicherplatz, Sherlock Holmes ballert davon mehr als ein Viertel zu. Das entspräche im Vergleich heute einem Spiel, das 290 Gigabyte auf der Platte abladen würde.
Natürlich geht für die mehr als 50 Hintergrundbilder und Animationen viel Platz drauf, zudem hat das Spiel eine Reihe digitalisierter Soundeffekte. Die meisten Megabytes frisst aber das hier:
„Have you been sufficiently fortified by Mrs. Hudsons murderous coffee, Watson, to put your mind to this mystery?” – “Whatever are you on about Holmes, so early in the morning?” – “I’m sorry to interrupt your reading, old man. Mrs. Hudson just delivered a very intriguing note. Would you care to peruse it?”
Sprachausgabe. Und nicht nur kurze Schnipsel wie im gleichen Jahr in Ultima 7, sondern mehrere Minuten vertonte Dialoge im Intro, Outro und in den Zwischensequenzen, mit einem halben Dutzend Sprechern. Das ist für seine Zeit regelrecht extravagant und soundtechnische Avantgarde, aber atmosphärisch hervorragend – auch wenn Holmes und Watson für den Großteil des restlichen Spiels stumm bleiben, haben sie doch durch ihr Auftaktgespräch vornherein eine zusätzliche Dimension gewonnen, die mich als Spieler näher an sie heranrückt.
Electronic Arts zeigt sich in einer weiteren Hinsicht als wegweisend, denn The Case of the Serrated Scalpel ist eines der ersten Spiele – vielleicht sogar das erste – das für andere Märkte nicht nur übersetzt, sondern synchronisiert wird. Hierzulande erscheint einige Monate nach dem Original eine komplett eingedeutschte Fassung mit deutschen Sprechern, auf Drängen von Christopher Earhardt und RJ Berg:
I was absolutely insistent that we do that because it was clear to me that Holmes had a real presence in Germany. The game initially sold much better in Germany than it did in England. It was clear to me, just from looking at book sales, how popular Holmes had been in Germany since way before the Second War.
Ich bestand darauf, dass wir das machen, denn Sherlock Holmes ist in Deutschland sehr präsent. Das Spiel hat sich in Deutschland anfangs sogar besser verkauft als in England. Schon allein den Verkaufszahlen der Bücher nach war klar, wie populär Sherlock Holmes in Deutschland war, schon vor dem zweiten Weltkrieg.
Um die Wirkung der schummrig-düsteren Schauplätze für Holmes Indizienjagd durch London mit angemessener Musik zu unterstreichen, zieht Electronic Arts prominente Unterstützung hinzu, nämlich Rob Hubbard. Hubbard, Engländer wie Sherlock Holmes, ist der bekannteste Musiker der C64-Zeit, eine Legende der 8-Bit-Ära. 1989 heuert er bei Electronic Arts an und komponiert dort Soundtracks, unter anderen auch für The Case of the Serrated Scalpel.
Seine kurzen Stücke tragen erheblich zum zeitgenössischen Charme des Spiels bei, aber sie unterstreichen leider auch einen Makel. Denn weil EA, vermutlich aus Platzmangel, komplett auf Hintergrundgeräusche verzichtet, herrscht an den Orte nach dem Ende der kaum eine Minute langen Hubbard-Miniaturen absolute und bedrückende Stille. Ich hatte schon den Moongate-Pub oder das Rugby-Feld in den Kensington Gardens erwähnt, und wenn man dort im Trubel steht und keinen Mucks hört, wirkt das Geschehen auf einmal seltsam künstlich, und die Atmosphäre der Kulisse verpufft.
Grafik / Stil
Bei Electronic Arts hatten sie einen Namen für die Stimmung der Grafiken in The Case of the Serrated Scalpel: „The Mavor Glow“, das Mavor-Leuchten. Scott Mavor war der Grafiker bei Mythos Games, der die Hintergründe und Figuren des ersten Spiels zeichnete; als der Zeitdruck gegen Ende des Projekts stieg, zog er seine Mutter hinzu, Elinor Mavor, eine gelernte Illustratorin, die mithalf.
Wir reden von der Ära der VGA-Grafik, einer Auflösung von 320×200 Bildpunkten. Um das anschaulich zu machen: Wenn man auf einem modernen Fernseher mit Full-HD-Auflösung links unten ein Fenster mit 320×200 Pixeln einblenden würde, dann bleiben 97% der Bildfläche schwarz. Das ist in etwa so, wie wenn man eine Postkarte unten in die Ecke klemmt. Weil in The Lost Files of Sherlock Holmes am unteren Bildrand dauerhaft eine Menüleiste eingeblendet bleibt, sind die Hintergründe sogar noch etwas schmaler, nämlich nur 320×138 Pixel groß. Zwar kennt VGA rund 260.000 Farbtöne, kann aber nur maximal 256 davon gleichzeitig darstellen. Das sind ziemlich enge Limitierungen.
Was Scott Mavor darin erschuf, gehört für mich zu den atmosphärischsten Werken der VGA-Ära. Mavor wählte für die meisten Schauplätze dunkle Grundtöne und sanft abgestufte Paletten, was sehr flüssige Farbverläufe erlaubt, in denen die Pixel zu verschwinden scheinen, und in die schummrigen Räumen strahlen die warmen Gaslichter – das Mavor-Leuchten. Alle Hintergründe von Serrated Scalpel sind in Deluxe Paint gezeichnet, nicht gescannt; sie wirken manchmal perspektivisch ungelenk, aber immer mit großartigem Detailreichtum komponiert. Einer der eindrucksvollsten Räume im Spiel ist das Studio einer Wahrsagerin, über und über verhangen mit schweren roten Vorhängen, die das schwache Licht der Funzeln im Raum zu verschlucken scheinen – das Ergebnis ist eine wahrlich geheimnisvolle Stimmung. Neue Schauplätze zu entdecken ist in The Case of the Serrated Scalpel ein Genuss, und ein starkes Motivationselement.
Electronic Arts dagegen stellen das düstere London und Scott Mavors dunkle Farben vor unerwartete Probleme, wie sich Christopher Earhardt erinnert:
We actually spent almost two and a half month working on the lighting for several different scenes, because at the time there wasn’t really consistency in monitors, because it was back before LCD displays, when people were still using CRTs. When we took it into QA, it was notably depressing for a while there of how disparate the graphics looked on different monitors. So we were spending almost probably two and a half months doing nothing but tweaking and tuning about four different cels just to make sure that on all monitors everybody would get the same feeling.
Wir haben fast zweieinhalb Monate an der Beleuchtung einiger Szenen herumgebastelt, weil es damals keine wirklich einheitlichen Monitore gab. Als wir das Spiel in die Qualitätssicherung brachten, war es wirklich deprimierend zu sehen, wie unterschiedlich das Bild auf verschiedenen Monitoren aussahen. Wir mussten die Szenen überarbeitet und überarbeitet, bis wir sicher sein konnten, dass sie auf jedem Bildschirm einigermaßen einheitlich wirken würden.
Ich hätte gerne auch Scott Mavor zu seiner Arbeit befragt, aber manchmal werden wir auf traurige Weise daran erinnert, wieviel Zeit seit 1992 vergangen ist: Scott Mavor ist 2008 an Lungenkrebs gestorben.
Bedienung
The Case of the Serrated Scalpel adelt die LucasArts-Adventures dadurch, dass es die Bedienung komplett von ihnen übernimmt – oben der Blick in die Spielwelt, im unteren Drittel des Fensters eine Bedienungsleiste mit Verben, über die man Aktionsbefehle zusammenklickt. LucasArts hatte mal mit 15 Verben angefangen, die dann aber schrittweise auf schließlich 9 in Monkey Island 2 heruntergekürzt, und die übernimmt Sherlock Holmes 1:1 – mit einer Ausnahme. Die beiden Wörtchen „Push“ und „Pull“ fasst Electronic Arts ganz einfach als „Move“ zusammen. Das ist etwas, das LucasArts nie geschafft hat. Bis zu ihrem letzten Verben-Adventure Day of the Tentacle muss man immer entscheiden, ob man was drücken oder ziehen will.
Der freigewordene neunte Menüknopf führt in The Case of the Serrated Scalpel ins Inventar, das Sherlock Holmes in Nullkommanichts vollrümpelt, und zwar nicht nur mit wichtigen Dingen, sondern auch einer ordentlichen Menge Gegenständen, die man niemals braucht, darunter eine ganze Sammlung von Parfüms und Medikamenten. Sich mühsam durch die Inventarbildchen zu klicken gehört zu den anstrengenden Seiten des Spiels, das ansonsten sauber zu bedienen ist.
Wo wir gerade bei sinnlosen Gegenständen sind, wissen Sie eigentlich, was ein Tropus ist? Das Wort steht im Deutschen als Sammelbegriff für literarische Stilfiguren – sowas wie Oxymoron, Metapher und Hyperbel, im englischen hat sich „trope“ aber erweitert auf erzählerische Standardmechanismen, typische, oft abgedroschene Handlungsmotive. Eines der bekanntesten ist zum Beispiel der McGuffin, ein von Alfred Hitchcock geprägter Ausdruck für einen völlig austauschbaren Gegenstand, dem alle nachjagen – eine Tasche voller Geld, die genauso gut ein Riesendiamant sein könnte oder der heilige Gral oder ein sprechender Elefant aus Knödelteig. In Sherlock Holmes und das Geheimnis der tätowierten Rose ist es eine supergeheime Geheimformel, die so wichtig ist, dass man sie im Lauf des Spiels gleich mehrmals findet und zwei Kopien davon mit sich rumschleppt. Es könnte also statt einer Formel auch Dr. Watsons Unterhose sein, und es wäre auch nicht weniger spannend und vielleicht sogar einen Tick unterhaltsamer, vor allem wenn man später im Spiel herausfindet, dass ein Beauftragter von Reichskanzler Bismarck in London ist, um Dr. Watsons Unterhose für das Deutsche Reich sicherzustellen.
Aber ich erwähne die Tropes deshalb, weil es noch zwei weitere schöne Beispiele davon in den Sherlock-Holmes-Spielen gibt. Nämlich zum einen den berüchtigten Red Herring, also einen wichtigen Hinweis oder Gegenstand, der absichtlich in der Handlung gelegt wird, aber nie irgendwohin führt. Die nutzlosen Objekte im Inventar sind solche Red Herrings, aber die Lost Files haben noch klassischere Kaliber auf Lager. Im Apartment von Robert Hunt steht eine Truhe, die, wie Holmes nach eingehender Untersuchung erkennt, einen doppelten Boden hat. Der ist irrelevant und geht nie auf, aber das Spiel hindert seine Spieler selbstverständlich nicht daran, ihr ganzen Inventar an der Scheißtruhe durchzuprobieren. Noch viel *lustiger* ist aber jene Szene in The Case of the Serrated Scalpel, wo Sarah Carroways Freund James Sanders nicht glauben mag, dass sie tot ist. Nun hat Holmes diverse Schlüssel von ihr dabei, ihren Parfumflakon, ihre Opernkarten und das Anschreiben von Lestrade, das ihn zum Tatort bittet, fehlt eigentlich nur noch, dass er ihre Leiche in einem Sack mit sich herumträgt. Aber Sanders will eine offizielle Todesurkunde sehen. Die liegt gut sichtbar im Leichenschauhaus. Aber man kriegt sie nicht. Man braucht sie auch nicht. Stattdessen muss Holmes, *nachdem* er die Urkunde gesehen hat, zum Zeitungshändler, um sich eine Ausgabe von gestern geben zu lassen, die über Sarahs Tod berichtet. So geht ein allerfeinster Red Herring von der Sorte, wo man vor Lachen gar nicht mehr aufhören kann, den Kopf gegen die Wand zu hauen.
Das dritte Trope hat den schönen Namen „Chekhov’s Gun“ und ist nicht nach dem Phaser von Leutenant Chekov aus Star Trek benannt, sondern nach dem russischen Bühnenautor Anton Chekhov, der den Satz sagte: „Wenn du im ersten Akt eine Pistole an die Wand gehängt hast, dann sollte sie im nächsten Akt abgefeuert werden. Sonst tu sie da nicht hin.“ Im übertragenen Sinn ist Chekhov’s Gun zur Bezeichnung für einen Gegenstand geworden, der früh in der Handlung eingeführt, aber erst sehr viel später wichtig wird. Adventures mit ihrer Sammelwut sind prädestiniert für sowas, aber The Case of the Serrated Scalpel zieht das in vollendeter Form durch: Dort ist eine Eisenstange, die man als ersten Gegenstand im Spiel am Tatort aufsammeln kann, gleichzeitig der letzte Gegenstand, den man ganz am Ende benutzen muss. Dazwischen hat das Ding keinerlei Nutzen.
Authentizität
Die Lost Files of Sherlock Holmes zeichnen – ich sagte es schon – ein breites Bild ihres Zeitalters und seiner Moden. In The Case of the Serrated Scalpel besucht Holmes ein Feld, auf dem eine Studentenmannschaft die Trendsportart Rugby übt, die erst 1830 erfunden worden war. In den Pubs wird Pool Billard und Dart gespielt, letzteres sogar simuliert als Spiel im Spiel, wo man Pfeile auf die Scheibe schleudert. Im Geheimnis der tätowierten Rose besuchen Holmes und Watson die Praxis eines Phrenologen, die Pseudowissenschaft der Kopfvermessung, die damals groß in Mode war.
Nebenbei, wer die englischen Originalfassungen spielt, lernt auch neue Vokabeln für Dinge, die man vermutlich nie wieder gebrauchen wird. Wissen Sie zum Beispiel, was ein Antimakassar ist? Zu Holmes Zeit war es in Mode, dass sich Männer reichlich Haaröl in die Frisur strichen, das nach seinem Herkunftsort Makassar-Öl hieß; und weil das auf den Lehnen von Polstermöbeln ziemlich fiese Flecken hinterlässt, legte man ein kleines Schutzdeckchen darüber – einen Antimakassar. Die meisten Flugzeugsitze haben sowas auch heute noch. Oder: Die ermordete Sarah Carroway hatte ein „Reticule“ dabei, das ist das, was man im deutschen einen Pompadour nennen würde. … hilft das weiter? Falls nicht, das ist eine Damenhandtasche, eine Art Netzbeutel.
Die beiden Episoden der Lost Files bemühen sich auf diesen Wegen um historische Authentizität, und es ist ihnen anzurechnen, dass sie das unaufdringlich und glaubwürdig hinbekommen – kein Historienkitsch, sondern eine atmosphärische Kulisse. Dazu kommen die unvermeidlichen Versatzstücke aus dem Sherlock-Holmes-Kanon, allem voran der Inhalt der Wohnung in der Baker Street 221b. Die Initialen VR, zu Ehren des goldenen Thronjubiläums von Königin Victoria mit 70 Pistolenkugeln in die Wand geschossen. Der persische Slipper als improvisierter Humidor, gestopft mit Shag-Tabak. Die Stradivari, achtlos auf die Chaiselongue geworfen.
Ich finde, eine der hübschesten Auswirkungen der Adventure-Mechanik ist, dass sie ja prinzipiell dem Spieler erlaubt, allerlei Dinge im Raum anzuklicken, um zu erfahren, ob die in irgendeiner Weise wichtig oder nützlich sind. Auf diesen Klick gibt das Spiel eine Beschreibung oder einen Kommentar ab – aber genauer gesagt eben nicht das Spiel, sondern die Spielfigur. Dadurch lernt man nicht nur etwas über den Gegenstand, den man angeklickt hat, sondern vor allem auch über die Meinung der Spielfigur zu diesem Gegenstand, und dadurch wiederum etwas über ihren Charakter. Das Schöne an den Lost Files ist, das sie Sherlock Holmes auf diese Weise als jemanden portraitieren, der nicht nur Fakten abruft, sondern auch gleich urteilt, und das mit arroganter Absolutheit. Im Geheimnis der tätowierten Rose hängt zum Beispiel in der Wohnung von Thomas Pratt ein Portrait, das ist reine Dekoration, aber wenn man es ansieht sagt Holmes:
„Ein Bild des irischen Kritikers und vorgeblichen Schriftstellers Oscar Wilde schaut von der Wand herunter. Pratts Bewunderung für diesen wirklich exzentrischen, aber ansonsten eher unbedeutenden Autoren ist erstaunlich, aber belanglos.“
Das ist natürlich sehr hübsch, sowas aus dem Mund eines Menschen zu hören, der nicht minder exzentrisch ist. Ein anderes Beispiel, noch mal ein Gemälde, das Holmes im ersten Spiel im Haus von Anna Carroway betrachtet und folgendermaßen beschreibt:
„Ein interessantes, aber mäßig ausgeführtes Stillleben einer Blumenvase. Möglicherweise litt der Künstler am grauen Star: Obwohl die Farben bezaubernd sind, erscheint das Objekt unscharf, und die Formen sind nicht ordentlich umrissen. Es ist signiert mit C. Monet.“
Sherlock Holmes mag ein progressiver Wissenschaftler sein, aber in kulturellen Dingen, sagt das Spiel, ist er ein ziemlich konservativer Klotz, und damit wäre er in der viktorianischen Zeit ja wahrlich nicht der einzige.
Watson
Nun habe ich lang und viel über Sherlock Holmes geredet, aber da ist ja noch jemand, sein Sidekick Dr. Watson, und die Tatsache, dass das zwei Leute sind und nicht nur einer ist bekanntlich essenziell. Nicht umsonst gilt das dynamische Duo aus London als Urvater all der Buddy-Cop-Movies und Schnüfflerpärchen, die sich heute so auf den Bildschirmen herumtreiben; und nicht umsonst legen moderne Interpretationen des Materials wie sehr viel mehr Augenmerk auf Watsons als eigenständigen Menschen und die nicht unwesentliche Frage, welche Faszination ihn an einen so anstrengenden Menschen wie Sherlock Holmes binden mag.
In The Case of the Serrated Scalpel ist Watson dagegen noch der bekannt langmütige Begleiter und Reflektionsfläche für Holmes‘ Intellekt; an jedem neuen Schauplatz gibt er auf Anfrage seine Ratlosigkeit zu Protokoll – „Holmes, ich werd‘ daraus einfach nicht schlau!“ Aber die Lost Files nehmen Watson als Charakter ernst. Sein medizinisches Wissen als Arzt ist nützlich und wird von Holmes an mehreren Stellen angefragt, er taugt als mutiger Unterstützer, und er kommentiert in seiner kurzsichtigen, aber intelligenten und durchaus aufmerksamen Art das Geschehen und gibt dezente Hinweise darauf, was noch zu tun sein könnte. Nicht zuletzt protokolliert er sämtliche Gespräche in einem ausdruckbaren Tagebuch – eine eindrucksvolle, aber weitgehend nutzlose Geste.
Das Geheimnis der tätowierten Rose vertieft diese Interaktion zwischen Holmes und Watson weiter, und man kann mit einiger Berechtigung sagen, dass sie dort das Spiel trägt, das in vieler Hinsicht schleppender und ermüdender ist als der erste Teil – ich komme noch darauf. Dass man in den ersten Stunden nur mit Watson ohne Holmes unterwegs ist, ist dabei eher kontraproduktiv, denn der gutbürgerliche Watson ist für sich allein ein ausgesprochen langweiliger Charakter, und das Spiel gewinnt ihm keine interessante Facette ab. Umso erfrischender sind nach dieser dürren Anlaufphase die Wortwechsel des wiedervereinten Duos, und sie zeigen wunderbar, warum Holmes und Watson so ein unterhaltsames Paar sind. Das Geheimnis der tätowierten Rose und sein Autor RJ Berg finden schnell in einen Ton, in dem Holmes ungeduldig-provokante Urteile von Watson mit britisch unterkühltem Understatement geerdet werden, und so spielen sich die beiden mit charmanter Vertrautheit die Bälle zu. Ein Beispiel:
„Städtische Architektur ist die depressivste Kunstform, die die Menschheit erfunden hat.“ „Gefällt Ihnen das Design nicht? Der Bauherr wollte doch nur Stabilität vermitteln.“ – „Schade, dass er nicht bei dem Versuch umgekommen ist, was er nämlich erreicht hat, ist reine Großspurigkeit, zumindest an den Stellen, die nicht bedrückend wirken.“ – „Ich werde das einfach mal als ein Nein.“
Oder diese Szene, als Holmes zitierend durch eine Bibel blättert:
„Wer Wissen vergrößert, vergrößert auch Sorge. Wie wahr, Watson!“ – „Der Autor hat bestimmt nicht Sie gemeint, glaube ich.“ – „Wie ein güldenes Juwel in einem Schweinemaul ist eine Frau ohne Diskretion“ – „Die Weisheit der Sprichwörter hat auch ihre Grenzen, Holmes.“
Tatsächlich sind Sherlock-Holmes-Spieler eines der wenigen Szenarien, das von einer deutschen Übersetzung profitiert, weil sich Holmes und Watson im Deutschen siezen können, was die Fallhöhe noch ein Quäntchen erhöht. Man darf das Geheimnis der tätowierten Rose deshalb getrost in der ordentlich lokalisierten deutschen Fassung spielen.
Electronic Arts “Interactive Stories”
Als die erste der beiden Sherlock-Holmes-Episoden 1992 erschien, da prangte beim Spielstart unter dem Electronic-Arts-Logo ein neuer Schriftzug: „EA Interactive Stories“. Sherlock Holmes war EAs Kampfansage an LucasArts und geplant als Auftakt für eine Reihe an Spielen, die sich an eine neue, erwachsenere, gesetztere Zielgruppe richten sollten. Wie viele Interactive Stories hat EA also in der Folge herausgebracht?
Die Antwort ist: Gar keine. The Case of the Serrated Scalpel ist das einzige Spiel unter dem Label „Interactive Stories“. Dabei ist es nicht EAs letztes Adventure, natürlich erschien noch das zweite Sherlock Holmes und dazwischen Labyrinth of Time und Noctropolis, aber da war das Label schon wieder gestorben, und bleibt so ein kurioses Relikt. Eric Lindstrom erinnert sich daran, was Electronic Arts mit den Interactive Stories vorhatte:
We did try to do a number of different others, but they panned out differently or fell through entirely. Christopher Earhardt was at the time trying to get us interested in buying the license for Buffy the Vampire Slayer, and we thought that was hilarious. It was only many years later that I watched it and thought, Wow, we should have done this.
Wir hatten durchaus noch ein paar Anläufe, aber letztendlich liefen sich alle tot. Christopher Earhardt versuchte uns zu der Zeit zu überreden, die Lizenz für Buffy the Vampire Slayer zu kaufen. Wir hielten das für schreiend komisch. Ich habe erst Jahre später die TV-Serie gesehen und dachte: „Verdammt, wir hätten das machen sollen.“
Buffy war nicht die einzige Marke, um die sich EA in jener Zeit bemühte.
We were in negotiations for quite a while trying to make games based on the Babylon 5 license. We also tried to get the rights to Larry Nivens Ringworld series of books, and got it. I became the lead designer for making a Ringworld game. I designed out a whole adventure that was going to happen after the Ringworld books – that was before he wrote more –, and we actually had Niven up to look over my story. But we didn’t have enough production capacity to see it through, so we gave it to an external developer, Tsunami, and they kind of started from scratch and made it their own. At that time, EA Sports was really taking off and a lot of their fringe brands, such as Interactive Stories and EA Kids, collapsed.
Wir haben eine ganze Weile lang darüber verhandelt, ein Spiel auf der Basis von Babylon 5 zu machen. Und wir haben versucht, die Rechte an Larry Nivens Ringwelt-Büchern zu bekommen, die wir auch kriegten. Ich entwarf ein komplettes Adventure, das nach den Büchern spielte – das war, bevor er noch weitere schrieb -, und wir flogen Niven ein uns ließen ihn alles absegnen. Aber wir hatten nicht genügend Produktionskapazität im Haus, also gaben wir das Spiel an einen externen Entwickler raus, Tsunami, und die begannen wieder ganz von vorn und machten ihr eigenes Ding. Zu der Zeit ging EA Sports durch die Decke, und EA gab einige Randmarken auf, darunter EA Kids und die Interactive Stories.
Success
Die Lost Files of Sherlock Holmes sind für Electronic Arts von Anfang an ein ungeliebtes Experiment, dem kaum jemand großen Erfolg zutraute. Das begann schon beim Thema selbst, den Sherlock Holmes war auch deshalb die erste Wahl als Szenario, weil es billig war, wie RJ Berg erzählt.
They were looking for something they didn’t have to pay high licensing fees for, but would have an immediate attraction to a certain audience. Holmes turned out to be an excellent choice, though I did end up paying a little money to Arthur Conan Doyle’s granddaughter for the rights – his name and Watson and the case files still came under British copyright. It was not much. She wanted two copies of the game and really a trivial amount of money. She was a really old lady, and by the time we did the second one, she had passed away. No rights and permissions were required for the second game.
EA suchte nach etwas, das attraktiv für eine bestimmte Zielgruppe war, aber für das sie keine Lizenzgebühren zahlen mussten. Sherlock Holmes erwies sich als hervorragende Wahl, auch wenn wir am Ende doch etwas Geld an Arthus Conan Doyles Enkelin bezahlten, weil die Namen von Holmes und Watson unter britisches Urheberrecht fielen. Aber das war nicht viel. Sie wollte zwei Kopien des Spiels und einen trivialen Betrag. Sie war eine uralte Lady, und als wir ein paar Jahre später das zweite Spiel machten, war sie schon verstorben. Für den zweiten Teil mussten wir keine Rechte mehr erwerben.
Electronic Arts war zu jener Zeit bereits eine hitgetriebene Firma, die auf Konsolen wie dem Mega Drive und mit ihren aufblühenden Sportspiel-Serien Millionenumsätze einfuhr. Demgegenüber sah ein Spiel wie The Case of the Serrated Scalpel wie ein ziemlich gestriger Titel aus. Als es 1992 in den Handel kam, schienen die Zweifler Recht zu behalten.
The first week sales were exactly what everybody who had naysaid the product thought it was going to be, so they were very proud of themselves to show me off, but then, as the weeks kept going, and the months kept going, and the sales didn’t go down, they started realizing that it was a different model than what they were used to at the time. For most of your sports games, your action games, 75% of your sales happen within the first 90 to 120 days. But a game like this, 14, 15 months later you’re still doing the same numbers.
Die Verkaufszahlen der ersten Woche waren genau das, was die Bedenkenträger erwartet hatten, und das rieben sie mir natürlich auch genüsslich rein. Aber dann vergingen die Wochen, und die Monate, und die Verkaufszahlen fielen einfach nicht. Und da begriffen sie, dass das ein anderes Geschäftsmodell war, als sie das gewohnt waren. Das typische Sportspiel, das typische Actionspiel macht 75% seiner Verkäufe in den ersten 90 bis 120 Tagen. Aber so ein Spiel dreht 14, 15 Monate später immer noch die gleichen Stückzahlen.
The Case of the Serrated Scalpel wird zum Schläfer-Hit.
The first game silently did a tremendous amount of business. The Serrated Scalped just jugged along, and word of mouth, and a review here and a review there, and it was more than a year, maybe 18 months, before someone in Sales said, „Hey, this game is doing a lot of business!“
Das erste Spiel hatte still und leise ein riesiges Geschäft gemacht, es lief vor sich hin, durch Mundpropaganda, durch einen Artikel hie und da, und es dauerte mehr als ein Jahr, gut 18 Monate, bevor jemandem in der Sales-Abteilung auffiel: „Hey, das Spiel macht richtig Umsatz!“
Als Reaktion darauf legt Electronic Arts aber nicht gleich einen Nachfolger nach. Erst mal kommt das Spiel 1994 erneut auf dem Markt. In den zwei Jahren hat sich die Technik weiterentwickelt, die CD-ROM gilt als neues Wundermedium. EA ist über den Ex-Firmenchef Trip Hawkins mit 3DO verbandelt, einer Firma, die nach Amigas CD32 und Segas Sega CD eine der ersten Spielkonsolen mit CD-ROM-Laufwerk produzierten. Als Flaggschiff-Produkt für das 3DO steuerte Electronic Arts eine aufpolierte Fassung von The Case of the Serrated Scalpel mit durchgehender Sprachausgabe und Videoschnipseln von Schauspielern für alle Dialoge bei. Ansonsten ist die Neuauflage inhaltsgleich zum Original, und alles in allem bedeutungslos. Kurz darauf fällt die Entscheidung, die Serie fortzusetzen.
Mythos was available, and I was able to convince people that it was worth doing another product. So we put as much of the band back together as we could and started off down this road.
Ich konnte genügend Leute davon überzeugen, dass wir einen Nachfolger machen sollten, Mythos war verfügbar, und so brachten wie den Großteil der Band wieder zusammen und legten los.
Rose Tattoo
The Case of the Serrated Scalpel war bei aller Herumfahrerei in London ein vergleichsweise, nun, sagen wir: alltäglicher, lokaler Fall. Mit dem Geheimnis der tätowierten Rose macht RJ Berg ein größeres Fass auf. Schon im Intro sprengt ein Bombenanschlag auf den Diogenes Club Sherlock Holmes’ Bruder Mycroft ins Koma; anschließend beginnt die Jagd nach einer gestohlenen Geheimformel für einen Supersprengstoff, von der die Geschicke ganz Europas abhängen. Dass Sherlock Holmes mit den politischen Größen seiner Zeit verkehrt, ist auch in Arthus Conan Doyles Geschichten hinterlegt, aber im Verlauf des Rosengeheimnisses trifft Holmes unter anderem den deutschen Kaiser Wilhelm II. und die englische Queen, und die Klärung des Falls endet mit dem Ritterschlag für den Detektiven. Das ist ganz schön dick aufgetragen.
Das Geheimnis der tätowierten Rose ist letztendlich eine recht konsequente Fortführung des ersten Teils, und das meiste, was ich über dessen Stärken und Schwächen gesagt habe, gilt auch für seinen Nachfolger. Der trägt in erster Linie dem technischen Fortschritt Rechnung. Der Fall erscheint 1996 von vornherein auf CD-ROM, mit vertonten Dialogen und in hoch aufgelöster Super-VGA-Grafik, und gemäß der Mode der mittleren 90er sind die handgezeichneten Hintergründe durch Rendergrafiken und die Charaktere durch digitalisierte Schauspieler ersetzt. Man hat damals unter dem Eindruck der erstaunlichen neuen Technik verschmerzt, dass sie zu künstlich wirkenden Kompositionen führt, wo photorealistische Schauspieler in computerberechneten Räumen herumlaufen, ohne Schatten zu werfen, und mitunter seltsam fehl am Platz wirken. Ich finde das Spiel weit weniger hübsch als den ersten Teil.
Wenn man die kühleren Atmosphäre verschmerzen kann und sich durch den spannungslosen Auftakt als Dr. Watson kämpft, gewinnt Das Geheimnis der tätowierten Rose an Unterhaltungswert; es ist eines dieser Spiele, die sich langsam entwickeln, die von Charme der Hauptcharaktere leben und die man umso mehr mag, je länger man sie spielt. Die Verbsteuerung ist passé, an ihre Stelle tritt ein eigenartiges kontextsensitives Inventar, in dem an jedem Ort nur bei den Gegenständen Befehle auftauchen, die Holmes hier sinnvoll einsetzen kann. Das führt zumindest dazu, dass es keine „Das geht nicht!“-Situationen mehr gibt, weil man überhaupt keine falschen Dinge mehr tun kann. Falls das so klingt, als ob sich das Spiel quasi von alleine spielt: Pustekuchen! Das Spiel kompensiert das erstens durch die schiere Masse an Interaktionspunkten pro Schauplatz, und zweitens durch peniblen Zwang zur richtigen Reihenfolge. So wird der zweite Lost-Files-Fall mehr noch als der erste Teil zum Such- und Wiederholungsspiel.
Das Geheimnis der tätowierten Rose bleibt übrigens ein Geheimnis. Das Tattoo findet sich früh im Spiel auf der Pobacke einer Leiche und weist auf einen Studentenbund, dessen Bedeutung dann aber im Unklaren bleibt, oder vielleicht habe ich’s auch einfach nicht verstanden. So oder so ist es für die Lösung des Falls irrelevant. McGuffin. Watson, reichen Sie mir Ihre Unterhose!
Fazit
Die beiden Lost Files of Sherlock Holmes sind typische Spiele der zweiten Reihe – zwei Adventures, denen die inhaltliche Qualität fehlt, um herausragende Spiele zu sein, aber die auf ihre Weise charmant genug ausfallen, dass sie auch heute noch einen Blick wert sind.
Es gibt immer noch, seit 40 Jahren, nicht allzu viele Spiele, die literarische Vorlagen aufgreifen, und die Lost Files stehen für mich exemplarisch dafür, wie schwer sich Games mit der Übertragung solcher Stoffe tun, zumal Adventures, die als Genre zwischen Erzählung, Spiel und Bühnenstück stehen. Die Inszenierung der Lost Files ist von Sherlock-Holmes-Filmen und TV-Serien inspiriert, sie sind eine Kopie der Kopie der Vorlage, und in ihrem Bemühen um Authentizität rückt die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Stoff in den Hintergrund.
Wir leben im Jahr 2012 in einer Zeit, die für Sherlock-Holmes-Interessierte eine der fruchtbarsten überhaupt ist; im Kino laufen die Hollywood-Blockbuster mit Robert Downey Jr., im Fernsehen die Sherlock-Episoden der BBC und die US-Serien „Elementary“ und Dr. House, die allesamt das Holmes-Motiv in die Gegenwart übertragen. Ihnen allen gemein ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie den Charakter Sherlock Holmes als Archetypen begreifen, der Übertragungen und Neuinkarnationen erlaubt und Spielraum für Interpretation lässt, für eine moderne Neuauslotung. Das kann so banal ausfallen wie die Umdeutung als Actionheld in den Filmen, oder so originell wie der Metierwechsel ins Medizinische mit Dr. House als genialem Griesgram. Alle vier Formate, auch die Filme, erkennen und erforschen das Abgründige im Charakter Sherlock Holmes, die Kehrseite der Genialität, seine Arroganz und Hybris, die autistischen Züge, die Beziehungsunfähigkeit; ihr Holmes leidet in unterschiedlicher Form an der Unfähigkeit seiner Umwelt und an sich selbst.
Diese … ja, ich traue mich kaum, das Experimentierfreudigkeit zu nennen, eher müsste man sagen: diese selbstverständliche kreative Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt den meilenweiten Vorsprung klassischer Medien vor Videospielen in Sachen Erzählung. Klar, natürlich ist es unfair, das einem 20 Jahre alten Computerspiel zum Vorwurf zu machen, aber so viel hat sich seit damals nicht getan – mir erscheint es nach wie vor undenkbar, dass ein Spielehersteller mit der Marke Sherlock Holmes etwas anderes machen würde als ein Detektivspiel im viktorianischen London. Der französisch-ukrainische Entwickler Frogwares hat gerade dieses Jahr wieder eins seiner Holmes-Adventures veröffentlicht, das tatsächlich die dunkle Seite des Detektiven auszuloten versucht; was ehrenhaft sein könnte, wäre es nicht so dilettantisch erzählt.
Die beiden Lost Files sind meiner Meinung nach die besten Sherlock-Holmes-Spiele, traurig genug, bei all ihrer Unvollkommenheit, seit 20 Jahren. In ihrer Bräsigkeit stehen sie gleichzeitig wie ein Mahnmal dafür, dass auch Spiele sich trauen können, trauen sollten, kulturelle Archetypen wie Sherlock Holmes aus ihrem historischen Kontext zu lösen und mit ihren Mitteln, mit den einzigartigen Möglichkeiten des Videospiels neu auszulegen, und damit seinen ihren Wert für die Gesellschaft zu bestimmen. Unser Medium braucht dieses Selbstverständnis, diesen Mut, wenn es relevant sein will. So stehen die Lost Files für den Sherlock Holmes von gestern, und ich bin gespannt auf den Sherlock Holmes von morgen.
RJ Berg, der Autor der beiden Lost Files, hat nach der zweiten Episode gemeinsam mit American McGee das Spiel Alice produziert, das die klassische Geschichte von Alice im Wunderland als Tim-Burton-haften Alptraum umdeutet. Eric Lindstrom war Autor von Tomb Raider: Legend, dem Serienteil, der die verblasste Ex-Ikone Lara Croft neu erfand. So haben die beiden Menschen, die The Case of the Serrated Scalpel erschufen, später zur narrativen Entwicklung des Computerspiels beigetragen. Jamie Ferguson löste Mythos Software nach Das Geheimnis der tätowierten Rose auf. Was er heute macht, ist unbekannt. Im Handbuch von The Case of the Serrated Scalpel steht über Mythos der Satz: „Hier ist ein guter Rat: Wenn Mythos an die Börse geht, kauf Aktien!“ Nun ja … soweit kam es dann ja nicht.
Was bleibt, sind zwei hübsche Adventures, deren wahre Helden die Zeit und die Stadt sind, in der sie spielen. Allein schon deswegen darf man ihnen eine Chance geben. Die letzten Worte gebühren, wie sollte es anders sein, Sherlock Holmes:
„Beachten Sie, Watson, wie berechenbar Pornographie doch ist.“
„Das ist eine Verleumdung! Ich bin Künstler!“
„Streiten wir uns nicht um korrekte Bezeichnungen. Sagen wir einfach, Sie sind ein Idiot.“
Sagt mal: Wollt ihr für die „zweite Reihe“ nicht mal Geld nehmen? Das Ultima-SpinOff war ja schon ein Hammer, den ich dreimal gehört habe. Und jetzt bin ich zum ersten mal durch Sherlock durch (btw: das Spiel kannte ich überhaupt nicht). Großes, großes Ohrenkino, dass weit über ein Freizeitprojekt von „zwei alten Männern“ hinausgeht! Danke! Und Pay Content…. fände ich nur angemessen. Oder macht es freiwillig als pay what you want-.
Du könntest es flattern :)
Lieber Christian,
das war seit lager Zeit das Charmanteste, was ich zu Computerspielen gehört habe; eine intelligente, tiefgründige Verneigung, die die Geschichten und Menschen hinter den Games achtet, ohne sie zu verklären. Bitte mach Du und macht Ihr weiter mit Eurem Konzept für erwachsene Gamer und Gamerinnen mit Niveau, und überlasst vermeintliche Coolness und Hype anderen. Wir brauchen nicht mehr von Low4 und Co, sondern mehr Schmidt und Lott!
Viele Grüße und danke für tolle Hörstunden!
Andrea
Machen wir – danke für den Ansporn! :)
„Bis 1954 brechen mehrmals Cholera-Epidemien in der Stadt aus…..“
Muesste das nicht 1854 sein?
Oh, stimmt. Im Podcast sage ich es aber richtig, glaube ich.
Leider nicht, ebenfalls 1954.( 39:20)
Ist aber egal. Der kleine Fehler kann den Podcast auch nicht schlechter machen. Hab ihn schon 8 mal, oder so, gehoert (deshalb ist mir das mit 1954 ueberhaupt aufgefallen). Meiner meinung nach der beste Podcast bisher. Das ist schon fast wie so ein hoerspiel. Gut geschrieben, gut recherchiert, von Anfang bis Ende interessant und sehr gut und fluessig vorgelesen. :)
Weiter so!