In diesem Monat wird das zweite Fallout ein Vierteljahrhundert alt. Ein Text von Christopher Bär.

Wenn in den späten 90er-Jahren die Rollenspiele ein literarisches Pendant hätten, wäre Fallout 2 sicherlich nicht der wohlgesetzte Roman eines Fitzgerald oder Hemingway. Nein, es wäre die exzentrische Beatnik-Poesie eines Kerouac oder Ginsberg, gesättigt mit sozialer Kritik und anarchischem Flair. 1997, als das erste Fallout auf die Szene tritt, kommt es wie ein frischer Wind in eine Branche, die inzwischen etwas von ihrem rebellischen Geist der frühen Tage eingebüßt hat. Man ist fasziniert von den geschliffenen Welten von Final Fantasy oder den Fantasy-Konzepten eines Diablo, die mehr an epische Erzählungen denn an die dystopischen Abgründe der Gesellschaft erinnern. Wie schon Fallout setzte Fallout 2 diesen Ideen vor 25 Jahren, im Oktober 1998, seine eigene schroffe Identität entgegen.

Fallout 2

Wie war das überhaupt möglich? Der Erfolg von Fallout aus dem Jahr 1997 war noch frisch in den Köpfen der Spieler. Die Welt hatte gerade die Freuden des Ödlands kennengelernt, wo mutierte Kreaturen, ruchlose Banditen und bizarre Sekten die Tagesordnung bestimmten. Fallout wurde als Meilenstein gefeiert – ein Rollenspiel, das dem Spieler echte moralische Entscheidungen und Konsequenzen bot. Es war nur logisch, dass ein Nachfolger produziert werden musste, und zwar schnell. Black Isle Studios übernahm wieder die Zügel und lieferte ein Sequel, das nicht nur den Geist des Originals einfing, sondern auch den Umfang und die Tiefe der Spielwelt erheblich erweiterte.

Fallout 2 legte in vielerlei Hinsicht zu. Das Spiel brachte neue Fraktionen, komplexere Quests und eine größere Weltkarte. Es bewahrte den Kern des Vorgängers, fügte aber eine neue Ebene an Politik und Sozialkommentar hinzu – man könnte sich in Diskussionen über die moralische Ambivalenz der Enklave oder die politischen Unruhen zwischen der New California Republic und den Raider-Fraktionen verlieren. Der Dialog ist voll von beißendem Humor, Gesellschaftskritik und scharfsinnigen Beobachtungen, die Spielwelt bevölkert von obskuren Sekten, korrupten Politikern und bizarrer Popkultur man denke zum Beispiel an die „Hubologen“, die offensichtliche Parodie auf Scientology. Oder an den Mob in New Reno, der die moralischen Tiefen der Gesellschaft auslotet. Und wer erinnert sich nicht an Goris, den hochgebildeten Albino-Todeskrallen-Gelehrten, oder an Cassidy, den grummeligen Barbesitzer mit Herz?

Der Charme von Fallout 2 liegt in der schieren Freiheit, mit der es seinen Spielern begegnet. Während Fallout in einem eher begrenzten geografischen Raum feststeckte, explodierte der Nachfolger geradezu in einem Füllhorn an Orten, Charakteren und Quests. Die Grundlagen des Vorgängers – das S.P.E.C.I.A.L.-System, der rundenbasierte Kampf, die moralischen Entscheidungen – bleiben erhalten, werden jedoch mit mehr Tiefe, Komplexität und einer gehörigen Portion schwarzem Humor angereichert.

Aber vielleicht ist es die langfristige Wirkung von Fallout 2, die am beeindruckendsten ist. Die Fallout-Serie hat sich im Laufe der Jahre dramatisch weiterentwickelt, zunächst mit Fallout 3 von Bethesda, das die Serie in die dritte Dimension führte, und dann mit dem von der Kritik gefeierten Fallout: New Vegas sowie mit Fallout 4, bei dem dann allerdings die mittlerweile fade Bethesda-Formel kritisiert wurde. Während die späten Einträge sicherlich ihren eigenen Charme haben, dient Fallout 2 immer noch als Vorbild für das, was ein isometrisches RPG bieten kann: eine tiefe, interaktive Geschichte voller Entscheidungen, Konsequenzen und ikonischer Charaktere.

Hinweis: Zu Fallout 1 gibt es eine Podcast-Folge mit Chris und Gunnar; Rahel hat zudem eine Folge zur Lore von Fallout gemacht.