MAGAZIN | Meat Puppet
Ein indiziertes Spiel, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Ein Text von Christian Schmidt.
Sechs sogenannte „Botschafter“, eigentlich nichts weiter als milliardenschwere Industriekapitäne, streben die Weltherrschaft an. Ebenso das abgrundtiefböse Wesen „Martinet“. Um sein Ziel vor den Konzernchefs zu erreichen, stampft es eine Arme willenloser Marionetten, „Meat Puppets“, aus dem Boden. Eine dieser Meat Puppets ist Lotos, die Protagonistin unseres Spiels. Sie wurde durch eine mit flüssigem Sprengstoff präparierte Vorspeise in den Dienst des Martinet gezwungen. Verweigert Lotus nun die Zusammenarbeit, zündet Martinet das explosive Material und zerlegt unsere Heldin in unappetitliche Einzelteile. Damit ist Lotos gezwungen, jeden noch schädlichen Auftrag zu erledigen. Der aktuelle, bei dem der Spieler ihr behilflich sein soll, lautet: Töte alle sechs Firmenbosse!
Diese hübsche Kurzbeschreibung stammt nicht von mir, sondern vom Stadtjugendamt Bochum. Das nämlich beantragt im August 1997, das unlängst erschienene Actionspiel Meat Puppet bitte umgehend zu indizieren. Der zuständigen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPjS) scheint der Passus gut gefallen zu haben, jedenfalls wird er in die Urteilsbegründung übernommen.
Die Causa Meat Puppet geht bei der BPjS direkt ins Dreiergremium statt in das übliche Zwölfergremium, also ins beschleunigte Verfahren. Das ist für Medien reserviert, die schon nach erstem Augenschein mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit indiziert werden dürften. Der deutsche Vertrieb des Spiels, Softgold, erhebt dagegen keinen Einspruch, im Gegenteil: Er ruft Mitte Dezember schon mal vorsorglich alle Exemplare aus dem Handel zurück.
Was für eine Gewaltbombe ist uns denn da ins CD-Laufwerk gerutscht?
„Meat Puppet ist eine Kreuzung aus La Femme Nikita und Blade Runner“, lässt sich David Sears 1997 in Preview-Artikeln zitieren. Sears ist einer der beiden Producer des Spiels, der andere heißt Max Chapman. Sears und Chapman lernen sich Mitte der 90er in Irvine, Kalifornien kennen, einem Vorort von Los Angeles. Dort sitzt die US-Dependance von Virgin Interactive, wo beide arbeiten.
Sears kommt eigentlich aus der Spielepresse, er hat nach dem Anglistik-Studium ein paar Jahre für die US-Zeitschrift Compute geschrieben. Einen Fuß in die Tür zum Spielemachen kriegt er, als er Harlan Ellison dabei unterstützen darf, ein erstes Skript für dessen Computerspiel-Umsetzung von I Have No Mouth and I Must Scream zu schreiben. Danach wird er bei Virgin Interactive als Producer eingestellt.
Max Chapman startet seine Karriere als Konzeptzeichner beim Spezialeffekte-Studio Sony Imageworks, bevor er als Art Director zu Virgin wechselt. Dort arbeitet er mit Sears längere Zeit an einem Actionspiel, das letztendlich eingestellt wird. Frustriert kehren die beiden Virgin den Rücken und finden im Mai 1996 eine neue Heimat: Kronos Digital Entertainment.
Kronos ist eines der vielen Spezialeffekt-Studios, die in den 90ern im Zuge der digitalen Revolution aus dem Boden der Film-Metropole Los Angeles schießen. Gegründet wurde Kronos 1992 von Stanley Liu. Der findet seinen ersten großen Kunden in der Spieleindustrie: 1993 darf Kronos für Sierra Online ein neues, siebenminütiges Intro für die CD-Version des Kassenschlagers King’s Quest 6 rendern, anschließend Grafiken und Animationen für die Mega-Produktion Phantasmagoria beisteuern. Um selbst in die Spieleproduktion einzusteigen, nimmt Kronos 1995 den Auftrag des japanischen Publishers Vic Tokai an, in mörderischen sechs Monaten ein 3D-Prügelspiel für die Playstation rauszukloppen, deren US-Start im September 1995 ansteht. So entsteht Criticom, das zwar erwartbar ziemlicher Schrott ist, sich aber trotzdem ordentlich verkauft, weil es in den USA ein paar Wochen vor Tekken im Handel steht.
Mit diesem Rückenwind wandelt sich Kronos zum reinen Spiele-Entwickler. Es wird noch bis zum Jahr 2000 dauern, bis die Firma mit dem Action-Comic Fear Effect endlich einen Hit landet (und 2002 auch schon wieder schließen muss, nachdem die Finanzierung eines dritten Fear Effect-Teils gescheitert ist). Vorher entstehen weitere 3D-Prügelspiele, denn als Playstation-Entwickler spezialisiert sich Kronos logischerweise auf 3D-Grafik.
Und dann ist da Meat Puppet. Ein 2D-Spiel. Für den PC.
Diese Kuriosität im Kronos-Portfolio landet dort wohl schon 1995, als das Studio nach dem ersten eigenen Projekt sucht. David Sears und Max Chapman haben sich noch bei Virgin eine eigene Welt ausgedacht: Eine brutale Cyberpunk-Zukunft, regiert von grotesk entstellten Konzernführern, die im Streben nach Macht und Unsterblichkeit bizarre Kreaturen und Maschinen erschaffen. Darin die zynische Heldin Lotus, Auftragsmörderin wider Willen, die im hautengen Superanzug Leichen und rotzige Sprüche in ungefähr gleicher Frequenz produziert. Das Spielkonzept schauen sie sich von Origins Mitte 1995 erschienenen Überraschungshit Crusader: No Remorse ab, einer Mischung aus Dauerballern und einfachen Rätseln in isometrischer Grafik. Dieses Projekt platzieren sie, vermutlich noch als Auftragsproduktion via Virgin Interactive, bei Kronos. Als Virgin 1996 den Stöpsel zieht, ist Meat Puppet schon zu weit gediehen, um es in den Müll zu kloppen. Also macht Kronos samt Sears und Chapman auf eigene Rechnung weiter. Ein neuer Publisher findet sich in Playmates Interactive, der kurzlebigen Games-Sparte des US-Spielzeugherstellers Playmates. Die Interactive-Tochter wurde hauptsächlich dafür bekannt, dass sie Shinys Earthworm Jim-Spiele in die Läden gestellt hat.

Es dauert dann noch ein Jahr, aber im Juli 1997 erscheint Meat Puppet tatsächlich. Und schafft es damit just in die Erstausgabe der GameStar, in der Peter Steinlechner der „schönen, aber schwierig zu steuernden“ isometrischen Ballerei eine Spielspaß-Wertung von 66% bescheinigt. Das Testmuster stammt vom deutschen Vertrieb Softgold, der Meat Puppet hierzulande zwar in deutscher Packung, aber unübersetzt veröffentlicht. Zuvor hatte die USK ihren Segen gegeben: Freigabe ab 16 Jahren. Allerdings war das zu der Zeit noch nicht bindend für die Bundesprüfstelle, und so befasst sich im Herbst 1997 das Dreiergremium mit der Frage, ob Meat Puppet nicht doch besser indiziert werden sollte. Denn das Spiel hat, wie Peter Steinlechner lobt, zwar „liebevoll animierte Gegner-Sprites“, nur beziehen sich diese liebevollen Animationen vor allem auf ihr Ableben.

Die BPjS beschreibt das in ihrem Urteil in lebendiger Prosa: Der Beschuss aus dem Maschinengewehr habe zum Beispiel bei einigen Gegnern „lediglich ein verhaltenes Absondern rosafarbener Blutpixel zufolge, wohingegen Brigadiers förmlich in ebenfalls rosafarbenen Gewebebrei zerplatzen.“ Ungleich anschaulicher inszeniere das Spiel die Folgen des Flammenwerfergebrauches: „Die getroffene Figur torkelt von Flammen erfasst unter markerschütternden Schmerzensschreien über den Bildschirm, um schließlich als Häuflein Asche zu enden.“ Das Dreiergremium erkennt die technische Kompetenz und grafische Qualität des Spiels durchaus an, schreibt ihm atmosphärische Dichte zu und spricht ihm den Status als Kunstwerk nicht ab. Jedoch sei es die „realitätsnahe Aufbereitung der Tötungsanimationen, welche die jugendgefährdende Wirkung auch für den unbefangenen Betrachter zweifelsfrei erkennbar“ mache. Die fortlaufende Aufforderung zu Tötungshandlungen, an Jugendliche gerichtet, ließe nur die Indizierung zu. Die erfolgt mit Entscheidung 5246 am 22. Dezember 1997.

Nichts anderes war zu erwarten, schließlich standen die beiden Crusader-Spiele in Deutschland schon auf dem Index. Deren DNA steckt auch in Meat Puppet, allerdings weitergesponnen. Wo Crusader noch eine weitgehend lineare Ballerei ist, öffnet Meat Puppet eine zusammenhängende Welt, deren teils enorm weitläufige Schauplätze durch die Straßen eines kleinen Hubs und eine verwinkelte Kanalisation verbunden sind und in deren vertikalen Räumen die gelenkige Heldin Lotus ähnlich viel mit Springen beschäftigt ist wie mit Schießen. Und wo Crusader seine biedere Sci-Fi-Welt nüchtern präsentiert, atmet Meat Puppet den rotzigen Charme der 90er-Jahre-Comics: Hier wird viel geflucht, achtlos getötet, alles ist überlebensgroß, egdy und schwarzhumorig übersteigert. Zu den Gegnern gehören genetisch gezüchtete Wasserkopf-Kinder, die chirurgischen Sägen schwingen, in Nährstofftanks schwimmende Föten steuern Flammenwerfer-Minipanzer, zu den Bossgegnern gehört ein Greis im Lebenserhaltungs-Sarkophag, aus dessen Fußende Fäkalienbrei tropft. Diese geschmacklose Überspitzung schlägt sich natürlich auch in den Toden nieder, die als visuelle Belohnung auf die Spielenden einprasseln; da schieben wir ein Riesenhirn durch eine Klinik, um es in einem Schredder zu zerschnetzeln, da schleppen sich die Oberkörper zerteilter Cyborgs blutend und wild schießend auf dem Boden herum, da zerplatzen kinderartige Gegner zu rosa Klümpchensoße.
Das alles ist, so makaber es klingt, in der Tat bildhübsch. Meat Puppet ist tonal ein Kind seiner Zeit und somit heute schmerzhaft cringy, die Protagonistin Lotos und ihr KI-Sidekick Dumaine schwer zu ertragen. Aber visuell brilliert das Spiel mit flüssigen Animationen, ausgesprochen stimmungsvollen Art-Deco-Kulissen und einem an Syndicate erinnernden, düster-entsättigten Hi-Res-Look. Das macht Meat Puppet im Jahr 1997 zu einem eindrucksvollen Artefakt der untergehenden 2D-Ära.
Und auch wenn die durchwachsenen Kritiken der Zeit es nicht vermuten lassen: Es ist sogar ein ganz manierliches Spiel, dem in erster Linie die ärgerlich missglückte Steuerung im Weg steht. Wenn man deren Unzulänglichkeit akzeptiert und das unerklärliche Zeitlimit der ersten Mission überwindet, dann entfaltet die zynische Welt mit der Zeit einen skurrilen Charme. Das flotte, faire Spiel leistet überraschend wenig Widerstand, sodass sich Meat Puppet recht locker wegspielt. Ich hatte eigentlich nur vor, mal kurz reinzuspielen; zu meiner Verblüffung setzte nach dem ersten Schmerz der „Ach, ein Stündchen geht noch“-Effekt ein, und irgendwann war ich schließlich durch. Meat Puppet ist weder Meisterwerk noch Geheimtipp, aber für Crusader-Fans ein völlig okayer Happen.
Und weil sich die Welt weitergedreht hat, ist Meat Puppet seit 2022 auch nicht mehr indiziert. Inzwischen kann man das Spiel in Deutschland wieder regulär kaufen, bei Steam oder GOG. Für David Sears und Max Chapman kommt das allerdings zu spät: Die hätten nämlich gern noch einen Nachfolger gemacht. 1997 hatten sie schon mal verlautbart, dass sich Lotos darin als Prostituierte entpuppt hätte, die nun ihren Zuhälter töten will. Auf diesen Knaller müssen wir schweren Herzens verzichten.
