MAGAZIN | Sierras Laptop-Spiele
Die Geschichte, wie Sierra versucht hat, den Markt für Laptopspiele zu erobern. Ein Text von Christian Schmidt.
Anfang 1990 fliegen Ken und John Williams nach Japan; die beiden Brüder leiten als Geschäftsführer und Marketing-Chef das US-amerikanische Games-Unternehmen Sierra On-Line. Im Flieger fällt ihnen ein Mann auf, der auf einem Laptop arbeitet. Nach einer Weile klappt er den Laptop zu und zieht einen Game Boy hervor, um den Rest des Flugs lang darauf zu spielen. Die Williams-Brüder, so berichtet einige Monate später die hauseigene Firmen-Postille „Sierra News“, irritiert das: „Sie hielten es für eine Schande, dass der Mann einen leistungsstarken kleinen Computer parat hatte, aber sobald es darum ging, ein bisschen Spaß zu haben, tauschte er ihn gegen einen besseren Taschenrechner aus.“ Ken und John leiten aus dieser Beobachtung eine Idee ab: Den armen, reichen Laptop-Besitzern muss mit maßgeschneiderter Entertainment-Software geholfen werden.
Nun sind Laptops im Jahr 1990 weit entfernt von den komfortablen Flach-PCs, die wir uns heute darunter vorstellen. „Tragbarkeit“ bedeutet in erster Linie, dass das Gerät ohne Stromanschluss läuft und einen integrierten Bildschirm besitzt. Handlich sind die klobigen Blöcke aber nicht unbedingt, dank des massigen Akkus zudem sehr schwer. High-End-Geräte wie der Compaq SLT kosten über 5.000 Dollar. Dass darauf eher selten Spiele laufen, hat nicht unbedingt mit den Leistungsdaten zu tun – der Acer Anyware 1100 LX von 1990 zum Beispiel kommt mit einem 386er-Prozessor und 2 MB RAM, was für viele Spiele der Ära völlig ausreichend wäre. Hemmschuhe sind erstens der Akku, den anspruchsvolle Spiele im Nu leersaufen, zweitens der Bildschirm, denn die Laptops kommen mit langsamen Schwarz-Weiß-LCD-Screens.
Der Sierra-Chef und sein Bruder sehen darin kein Hindernis, sondern einen Zukunftsmarkt. Die Firma begreift sich als technologischer Fortschrittstreiber: Im Vorjahr hat sie begonnen, in den USA sündteure Roland-LPAC-I-Soundkarten zu verkaufen und ihre Spiele konsequent mit Soundunterstützung auszustatten. Sierra-Entwickler arbeiten am Online-Dienst The Sierra Network, der Ende 1990 in die Testphase starten wird. Und dass auf PCs gerade die Ära der prachtvollen VGA-Grafik anbricht, demonstrieren 1990 eindrucksvoll die Sierra-Adventures Rise of the Dragon und King’s Quest 5. Damit ist auf Laptops zwar kein Staat zu machen, aber dafür sieht Sierra dort ein völlig unbeackertes Marktsegment. Klar, die installierte Basis ist viel zu klein, um Spiele speziell für Laptops zu entwickeln. Aber das haben die Williams-Brüder auch gar nicht vor. Sierra hat schon genau das richtige Ding im Portfolio.
Im Vorjahr nämlich, 1989, erschien Sierras erstes Casual Game: Die Sammlung Hoyle Official Book of Games, die sechs Kartenspiele wie Hearts und Cribbage enthält und einen Schwung Sierra-Charaktere wie Prinzessin Rosella (King’s Quest) oder Sonny Bonds (Police Quest) als Mitspieler anbietet. Ein Jahr später meldet Sierra 200.000 verkaufte Stück – das ist ein Mega-Hit auf dem Niveau ihrer Adventure-Reihen. Logisch, dass Teil 2 nicht lange auf sich warten lässt, im Herbst 1990 liefert Hoyle Official Book of Games: Volume 2 28 Patience-Varianten. Auf der Packung prangt diesmal ein unübersehbarer grellgelber Kasten: „LÄUFT SUPER AUF LAPTOPS!“, und darunter: „Die perfekte Art und Weise, sich während Flugreisen die Zeit zu vertreiben!“ Vermutlich hat Marketing-Chef John Williams das persönlich ins Layout diktiert.
Aber dabei bleibt es nicht. Zwar besitzt Sierra nun zwei Spiele, die sich hervorragend für tragbare Computer eignen. Doch die Chefetage sorgt sich, dass die Geschäftsleute, die normalerweise Laptops besitzen, eher selten in Computerfachgeschäften abhängen. Zudem will Sierra neue Vertriebswege austesten. So reift der Plan, die beiden Hoyle-Titel direkt dort anzubieten, wo sie Reisende zu Spontankäufen anregen könnten: In Geschenke-Shops in Flughäfen, Bahnhöfen und Hotelketten. Die typischen Computerspiel-Kartonschachteln sind für Mitnahme-Ware zu unhandlich und auch zu teuer, deshalb muss ein anderer Formfaktor her. Praktischerweise hat die Firma auch dafür schon eine Lösung im Programm: Seit den späten 80ern erscheinen die hauseigene Lösungsheftchen in kleinen, flachen Plastikpackungen, sogenannten Blister Packs, samt eingestanztem Loch, um sie an Ständern aushängen zu können. In solche Sichtverpackungen schweißt Sierra nun die beiden Hoyle-Spiele ein, oben auf der Lasche steht in riesigen Lettern: LAPTOPS. Ab Herbst 1990, so vermeldet „Sierra News“, seien die recycelten Hoyles verfügbar für einen Preis zwischen 15 und 20 Dollar; das ist rund die Hälfte von dem, was Vollpreis-Spiele im Laden kosten.
Allerdings: Ich habe in zwei Jahrzehnten als Sammler noch nie eine der Laptop-Versionen der Hoyle-Spiele gesehen. Im Internet finde ich keine Bilder davon, selbst gutsortierte Fan-Seiten wie The Sierra Chest erwähnen sie nicht. Stephen Edmonds Kompendium aller Sierra-Produkte listet die beiden Laptop-Versionen unter den Produktnummern 33735 und 33737, sie müssen also wohl existiert haben. Wenn es sie gibt, dann sind sie ausgesprochen selten, was nicht für einen durchschlagenden Erfolg spricht.
Sierras Laptop-Programmlinie aber gab es definitiv; ich weiß das, weil ich den dritten, noch obskureren Titel vor mir liegen habe.
Oil’s Well war ein Arcade-Spielchen aus Sierras frühen Jahren, das 1983 leider das Pech hatte, mitten in den Video Game Crash hinein veröffentlicht zu werden. Sechs Jahre später stößt Ken Williams auf das Portierungs-Team Banana Development, das gerade einen Arkanoid-Klon namens Bananoid als Freeware veröffentlicht hat, als Fingerübung in der damals noch recht neuen VGA-Grafik. Williams heuert Banana Development an, um Oil’s Well als VGA-Remake eine zweite Chance zu geben. Das neue Oil’s Well kommt 1990 auf den Markt, und weil es neben VGA auch alle anderen PC-Grafikmodi bis runter zu CGA unterstützt und keine großen Anforderungen an die Hardware stellt, wird es ebenfalls als Kandidat für eine Laptop-Auskopplung auserkoren.
In der Blister-Packung des Laptop-Oil’s Well befinden sich neben einem eingekürzten Handbuch die gleichen zwei 3,5“-Disketten wie in der Schachtelversion, auch die Versionsnummer 1.15 ist identisch. Lediglich die Interpreter-Versionsnummer datiert diese Fassung auf den Dezember 1990, drei Monate später als die Box-Ausgabe. Vermutlich unterscheidet sich die Laptop-Version inhaltlich nicht vom Original; sicher sagen kann ich das aber nicht, denn die Disketten haben nach 33 Jahren den Geist aufgegeben.
Man ahnt es schon: Die Laptop-Produktlinie kann kein Erfolg gewesen sein. Es ist nicht mal sicher, ob der geplante Vertrieb über Geschenk-Shops jemals zustande kam, oder ob Exemplare wie mein Oil’s Well nur im Direktvertrieb von Sierra verschickt wurden. Allerdings ist die Geschichte damit noch nicht ganz vorbei.
Den Fokus auf Laptops hat Sierra zumindest bei den Hoyle-Spielen noch einige Jahre beibehalten, wenn auch nicht mehr als eigene Version. Als 1995 Hoyle Classic Games auf den Markt kommt, befinden sich Spiele schon im CD-Zeitalter. Der Packung liegen aber neben der Silberscheibe auch drei 3,5“-Disketten bei: eine Laptop-Fassung des Spiels als Gratis-Zugabe, die auch auf der Packung beworben wird.
Und mit den Blister-Packungen wagt Sierra 1992 nochmal ein zweites Abenteuer: Im Juni des Jahres erscheinen unter dem Label Crazy Nick’s Software Picks fünf Sammlungen von Minispielen, die aus Sierras Adventure-Serien ausgekoppelt wurden. Space Quest: Roger Wilco’s Spaced Out Game Pack besteht zum Beispiel aus drei simplen Arcade-Spielchen, die vorher in Space Quest 4 und dem Remake von Space Quest 1 enthalten waren. Und weil King’s Quest und die beiden Laura-Bow-Krimis leider ohne Minispiele veröffentlicht wurden, recycelt man für King Graham’s Board Game Challenge und Parlor Games with Laura Bow einfach ein paar Brettspiele aus dem 1991 erschienenen Hoyles Official Book of Games 3, damit Käufer gegen König Graham beim Backgammon antreten können.
Diese dreiste Zweitverwertung zielt nicht mehr auf Laptop-Besitzer, sondern auf den Mitnahme-Effekt von Casual-Spielern. Keine schlechte Idee, aber das falsche Produkt, denn Nick’s Picks haben kein spielerisches Fett auf den Rippen und dürften Käufer eher enttäuscht haben. Zumindest sind die fünf Titel heutzutage so selten, dass sie weit höhere Preise erzielen als die meisten anderen Titel aus dem Sierra-Portfolio.
Wer also wirklich rare Sierra-Stücke in seiner Sammlung haben will, der muss entweder Frühwerken wie den Hi-Res-Adventures oder Ultima II nachjagen – oder den Laptop-Versionen der Hoyle-Kartenspiele.