Chris erreicht mit seiner Sammlung einen Meilenstein und fragt sich, was genau er da gekauft hat. Ein Text von Christian Schmidt.

Anfang April 2024 kam ein unscheinbares Paket bei mir an, aus den USA, äußerlich nichts Besonderes. Drin lag das 10.000. Spiel für meine Sammlung. Welches genau, das wusste ich noch nicht – zu dem Zeitpunkt waren mehrere Bestellungen unterwegs zu mir, und ich hatte kein Auge darauf, welche zuerst ankommen würde. Das würde ich gleich herausfinden. Aber zuerst kurz durchatmen: 10.000!

Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte ich Eintrag Nummer 5.000 in meiner Sammlungsliste gemacht. Damals war mir nicht ganz klar, ob man überhaupt 10.000 PC-Spiele erreichen könnte. Wenn ja, dann war das jedenfalls sehr, sehr weit weg, nachgerade utopisch. Aber falls ich je die 10.000 knacken sollte, so hatte ich kurz überschlagen, dann müsste meine Sammlung damit ja wohl vollständig sein. Dann sollte ich nun wirklich jedes PC-Spiel besitzen, das je in einer „Big Box“ erschienen ist, einer richtigen Schachtel.

Heute kann ich sagen: Ich besitze nicht jedes PC-Spiel, das je erschienen ist. Ich besitze noch nicht mal 10.000 Spiele. Nicht alles, was in meiner Sammlung liegt, ist ein Spiel (ich habe allein 78 Bildschirmschoner, sagt die Datenbank, wo kommen die alle her?!), nicht alles ist für den PC, und ein paar Hundert Spiele in DVD-Boxen wurden im Laufe der Zeit auch angespült. Überhaupt, darf man verschiedene Versionen einzeln zählen? Fünfmal steht allein Wing Commander 2 in der Liste, als US-, DE-, Deluxe- und Budget-Version in zwei Varianten. Ein einzelnes Spiel, multipliziert mit fünf – das ist doch gemogelt?

Also formulieren wir es anders: In diesem Paket, das da im April 2024 vor mir liegt, befindet sich Eintrag #10.000 für meine Datenbank. Nicht ganz so glamourös, aber immer noch ein schöner Moment. Also her mit dem Teppichmesser. Welchem Spiel gebührt diese Ehre?

Einem ausgesprochen hässlichen Ding, wie sich herausstellt. Im Paket steckt eine Schachtel von Wizardry 4, dem legendären „Nur für Checker!“-Rollenspiel, das die ehrwürdige Serie mit seinem Hardcore-Schwierigkeitsgrad beinahe ins Grab gezwungen hätte. Auf die Vorderseite wurde ein fast flächendeckender Aufkleber gepappt, der darauf hinweist, dass in der Box Wizardry 1: Proving Grounds of the Mad Overlord steckt. So ist es dann auch: In der Packung befinden sich die Diskette und alle Beigaben zum ersten Serienteil.

 

 

Ich habe diese Box auf Ebay gesehen und war sofort fasziniert. „Wegen des Erfolgs unserer niedriger bepreisten Produkte gehen uns gelegentlich die Schachteln aus“, sagt der Aufkleber entschuldigend. Statt die Bestellung zu verzögern, habe man Proving Grounds in diese Packung gelegt. Der Spieletitel ist gestempelt, was nahelegt, dass solche hemdsärmeligen Bäumchen-wechsel-dich-Aktionen auch mit den anderen Wizardry-Titeln geschehen sein dürften. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Wie kam das zustande? Im Einzelhandel, soviel ist klar, hat diese Schachtel sicher nie gestanden; kein Laden der Welt würde eine so plump bestickerte Frankenstein-Fassung verkaufen, nicht mal zum Sonderpreis. Zudem spricht der Aufkleber von „Ihrer Bestellung“, was auf einen Direktversand per Post hinweist. Darüber hinaus gibt die Box aber keinen Hinweis darauf, wann oder wie sie in die Welt gelangte. Die Wizardry 4-Verpackung entspricht der Urversion aus dem Dezember 1987, das darin liegende Wizardry 1 ist die 1987 neu aufgelegte PC-Fassung auf 3,5“-Diskette. Aber von 1987 stammt diese Ausgabe sicher nicht.

Denn 1987 kam Sir-Tech, die Firma hinter Wizardry, endlich mal wieder in die Gänge: Vier Jahre nach Wizardry 3 erschien nicht nur der ewig verspätete vierte Teil, sondern auch neue Versionen der ersten drei Wizardrys. Die erste Episode – inzwischen sechs Jahre alt! – hatte es bis dato im Westen nur auf den PC (1984) und Macintosh (1985) geschafft, nun sollten endlich auch Atari 8-Bit, C64, Amiga und ST bedient werden. Am Ende wurde es dann doch nur der C64, aber ausgerechnet der PC erhielt bei der Gelegenheit eine verbesserte „New Edition!!!“ (mit drei Ausrufezeichen) von Wizardry 1, und bis Ende 1987 dann erstmals auch die längst veralteten Teile 2 und 3. Diese Leistung ließ sich Sir-Tech selbstverständlich angemessen bezahlen: Als ein Jahr später Wizardry 5 zum Vollpreis von 50 Dollar erschien, kostete jeder seiner Vorgänger-Teile nach wie vor genausoviel.

Meine zuplakatierte Box muss also später erschienen sein, zu einer Zeit, als Sir-Tech die Preise bereits gesenkt hatte. Allerdings finde ich keinen Hinweis darauf, dass Sir-Tech so etwas jemals getan hat. Die Firma der Sirotek-Brüder ging offenbar einen anderen Weg: die Restposten zu bündeln.

Dass Spiele, deren Lebenszeit im Handel durch ist, in Sammlungen neu aufgelegt werden, gehörte auch Ende der 80er schon zur bewährten Praxis. Dabei wurden gern auch übrig gebliebene Original-Disketten und -Handbücher zweitverwertet, jedoch in der Regel in neuen, für die Sammlung hergestellten Schachteln. Viel seltener ist der Weg, den Sir-Tech ging: nämlich auch gleich die Originalboxen mit zu bündeln. In diesem Fall steckten Wizardry 1, 2 und 3 in einem Pappschuber; der war neu, der Rest Lagerware. Dabei half, dass die Wizardry-Boxen standardisiert und vor allem vergleichsweise klein waren, sich also umstandslos zusammenflanschen ließen. Das Ganze nannte sich Wizardry Trilogy, erschien Ende 1989 und kostete 50 Dollar: drei Spiele zum Preis von einem.

Einen Nachteil hatte die Sache: Weil die drei Spiele der Trilogy in originalen Schachteln daherkamen, hinderte theoretisch niemanden etwas daran, sie einzeln weiterzuverkaufen oder, noch schlimmer, beim Sir-Tech-Kundendienst einen Umtausch zu erschleichen. Beides erscheint unwahrscheinlich, aber Sir-Tech war für paranoide Züge bekannt; schon zu den Hochzeiten von Wizardry 1 hatte die Firma Zettel in die Packung gelegt, um vor kursierenden „Cheat-Programmen“ zu warnen und leichtsinnige Spieler darauf hinwiesen, dass man durch Cheats zerstörte Charakterdisketten keinesfalls ersetzen würde. Jedenfalls entschied sich Sir-Tech dazu, sicherheitshalber jede der Boxen in der Trilogy per Aufkleber zu entwerten. „DIESE SCHACHTEL GEHÖRT ZU EINEM DREITEILIGEN SET“, stand in Großbuchstaben mitten auf dem Cover. Wer sich die Trilogy auch in der Hoffnung geholt hatte, die durchaus hochwertigen originalen Packungen bewundern zu können, dürfte diesen Service konsterniert zur Kenntnis genommen haben.

 

(Bildquelle: Mobygames)

 

Es gibt also bereits einen Präzedenzfall für eine zugeklebte Wizardry-Originalschachtel. Und dieser Präzedenzfall wiederum führt mich zu meiner Box. Der entscheidende Tipp erreicht mich aus der US-Sammlerszene: Meine Schachtel war ebenfalls mal Teil der Wizardry Trilogy. Eine Internet-Suche bestätigt den Hinweis, ich finde Fotos einer Ausgabe der Sammlung, in der nicht mehr die drei Originalboxen mit kleinem Sticker stecken, sondern dreimal Wizardry 4 mit dem neuen, flächendeckenden Aufkleber.

 

(Bildquelle: Ebay)

 

Vermutlich ist Folgendes passiert: Sir-Tech hat die Wizardry Trilogy sehr, sehr lange verkauft. Noch in einem Sir-Tech-Katalog des Jahres 1996 – sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung der Sammlung – kann man die Trilogy bestellen, und sie kostet nach wie vor 50 Dollar, keinen Cent weniger als am ersten Tag. Irgendwann in dieser Zeit sind Sir-Tech wohl die Schachteln der ersten Spiele ausgegangen. Im Laden stand die Trilogy da längst nicht mehr, aber Sir-Tech verschickte sie noch per Post. Die Sammlung muss zu gut gelaufen sein, um sie wegen einer solchen Lappalie aus dem Programm zu nehmen, geschweige denn den Preis zu senken. Oder – auch nicht unwahrscheinlich – die als stur geltenden Sirotek-Brüder haben’s schlicht weiterlaufen lassen, solange noch ein paar Dollar rauszumelken waren. Wizardry 4-Schachteln dürften jedenfalls zur Genüge vorhanden gewesen sein, immerhin war es, in den Worten von Robert Sirotek, „das schlechtverkaufteste Spiel, das wir je herausgebracht haben.“
Insofern ist diese Wizardry-Schachtel, die ich da im April 2024 aus dem Paket gezogen habe, ein kleines historisches Belegstück: Für die Scheißegal-Haltung, die zugleich aus dem völlig am Markt vorbei entwickelten Wizardy 4 wie auch aus dem impertinenten Aufkleber spricht, mit dem die Reste jenes Ladenhüters dann wohl viele Jahre später bei Kunden abgeladen wurden, die etwas anderes bestellt oder zumindest erwartet hatten.

Aber noch viel schlimmer ist für mich die Erkenntnis, dass ich dieses Box nicht in meine Sammlung aufnehmen kann. Denn sie ist ein Fragment: Zur vollständigen Wizardry Trilogy gehören schließlich alle drei Schachteln samt der Papphülle. Irgendwer hat Proving Grounds aus der Sammlung entnommen und einzeln an mich verkauft.

Hatten die Siroteks also doch recht.

Und ich besitze nur 9.999 Spiele.