MAGAZIN | Kampfgruppe in der Plastiktüte
In den 1990ern verschickte eine kleine US-Firma Schlachten in Plastiktüten. Ein Text von Christian Schmidt.
Seit Jahren befindet sich in meiner Sammlung eine seltsame Version des alten Kriegsspiels Kampfgruppe. Ursprünglich war Kampfgruppe 1985 beim US-Publisher SSI erschienen, das Coverbild der übergroßen Pappschachtel zeigt Wehrmachts-Panzer, die in Richtung russischer Front rollen. Meine Version hat aber gar keine Box, sondern kam in einer Plastiktüte. Darin: Ein zwar geheftetes, aber offensichtlich kopiertes Handbuch und eine einzelne 3,5“-Diskette, wo doch das Originalspiel nur auf 5,25“-Disketten herausgekommen war. Die Diskette trägt kein Datum und auch sonst keinen Hinweis darauf, woher diese Version stammen könnte. Also schrieb ich sie ab als wertlose Kopie, die irgendjemand mal für den Eigenbedarf angefertigt hatte. Bis neulich, als ich unverhofft die Lösung des Rätsels entdeckte. Und zwar in einem riesigen Versandkarton aus England.
Ein britischer Verkäufer hatte auf Ebay den Nachlass eines passionierten Spielers aufgelöst. „Er besaß die beste Sammlung, die ich je gesehen habe“, erzählte er mir, „er hatte seit den 1970ern jedes Spiel gekauft, führte ein Logbuch über seine Spielerfahrung und schrieb lange Briefe an die Hersteller, in denen er sie lobte und ihnen Bugs meldete. Sowas hatte ich noch nie gesehen.“ Peter Simpson hieß dieser Mann, der bis zu seinem Tod Programmierer an der Universität in Cambridge gewesen war. Viele seiner Spiele ließ er sich direkt aus den USA zuschicken; dazu gehörten auch knapp 100 Disketten in Plastiktüten, jeweils mit einem Handbuch dazu, alle gleich aussehend. Lange stand dieses Konvolut auf Ebay, ohne dass sich ein Käufer fand, auch ich schlich wegen des hohen Preises monatelang drum herum. Schließlich siegte dann doch die Neugierde, wir wurden uns handelseinig, und ein paar Wochen später traf eine dicke Kiste bei mir ein. Ich war nun stolzer Besitzer von Dutzenden eingetüteten Titeln, die alle von einer einzelnen amerikanischen Firma kamen: der NovaStar Game Company. Noch nie gehört. Was genau hatte ich hier eigentlich erworben?
Zeitsprung: Wir sind im Jahr 1980. Beim US-Finanzamt arbeitet ein Mann namens David Landrey, der in seiner Freizeit einfache Rundentaktik-Spiele für den TRS-80 programmiert. Darüber lernt er den Lehrer Chuck Kroegel kennen, beide teilen die Leidenschaft für historische Tabletop-Kriegsspiele. Gemeinsam gründen sie die Tactical Design Group (TDG), um Computer-Kriegsspiele zu entwerfen – Landrey programmiert, Kroegel designt. Ihr erstes Werk, The Battle of Shiloh für Atari 400/800, bringen sie beim aufstrebenden Publisher SSI unter. Es folgen viele weitere, bis 1988 pumpen die beiden zwölf Taktikspiele in SSIs umfangreiches Portfolio. Als SSI die Dungeons-&-Dragons-Lizenz erwirbt, darf Landrey die direkt für ein Kriegsspiel verwursten, War of the Lance von 1989. Das floppte im Markt und ist heute ein gesuchtes Sammlerstück.
Das erste Spiel von David Landrey und Chuck Kroegel: The Battle of Shiloh (1981).
Chuck Kroegel hatte sich zwischenzeitlich von SSI anstellen lassen und dort Karriere gemacht, er stieg erst zum Entwicklungsleiter, dann zum Firmenchef auf. David Landrey steuerte Anfang der 90er das Entwicklungssystem für eine Handvoll SSI-Taktikspiele bei, stieg dann aber aus, um sich voll auf ein Geschäft zu konzentrieren, das ihm quasi nebenbei erwachsen war: Szenario-Disketten.
Battles of Napoleon (1988): Nein, hübsch ist das nicht, aber die inneren Qualitäten überzeugen.
Denn Landrey und Kroegel war 1988 ein kleiner Coup gelungen: Ihr zwölftes gemeinsames Spiel, Battles of Napoleon, bekam in der Fachpresse nachgerade enthusiastische Kritiken – „besser als Sex“ nannte es die Computer Gaming World schon in der Artikelüberschrift, und sowas hört man über Rundentaktik-Kriegsspiele ja eher selten. Battles of Napoleon war zwar kein Verkaufsschlager, baute sich unter amerikanischen Wargamern aber eine eherne Fangemeinde auf (das Spiel besitze „eine veritable Kult-Gefolgschaft“, staunt die Computer Gaming World fünf Jahre später). Grund dafür war eine Neuerung: Zum ersten Mal hatten Landrey und Kroegel einem ihrer Spiele einen Editor spendiert, mit dem sich eigene Gefechte erstellen ließen. Ein Teil der Kundschaft sprang darauf so stark an, dass bald handgemachte Karten kursierten, und auch Landrey selbst baute weitere Szenarios. In der internetlosen Zeit der späten 80er sind die jedoch nur schwierig unters Volk zu bringen. Das bringt Landrey auf eine Idee: Was, wenn man die besten Szenarios sammeln und per Post auf Disketten verschicken würde? So gründet er im Mai 1990 die Novastar Game Company.
Der erste Hinweis auf Landreys Unternehmung: Eine Anzeige direkt im Handbuch der PC-Version von Battles of Napoleon.
Zweck seiner neuen Firma ist genau das, nämlich Szenario-Disketten im Postversand zu vertreiben. Genauer gesagt: Szenario-Disketten für Kriegsspiele. Das betrifft zunächst nur Battles of Napoleon und läuft auch eher nebenher; in den vier Jahren bis 1994 veröffentlicht Landrey in gemütlichem Tempo sechs solcher Erweiterungen.
Doch dann gelingt SSI ein Dreifach-Schlag: Mitte 1994 erscheint Wargame Construction Kit: Tanks, zum Jahresende das erste Panzer General. Letzteres ist ein Mega-Hit, der die Weltkriegs-Taktik kurzzeitig in den Mainstream spült. Echten Wargamern ist Panzer General zwar zu casual, aber für die gibt’s ja Tanks, zudem legt SSI Ende 1995 Steel Panthers nach. Auch das wird, obwohl ein Hardcore-Wargame, in der Bugwelle von Panzer General ein Bestseller, denn Weltkriegs-Panzer sind gerade hip. Der Erfolg der drei Titel schwemmt Novastar neues Publikum zu, und so sieht David Landrey seine Chance gekommen. Er expandiert.
Steel Panthers (1995) ist SSIs erstes Taktikspiel, das hochauflösende SVGA-Grafik unterstützt – damals ein Augenschmaus im Genre.
1995 explodiert das Angebot von Novastar. Ab April führt Landrey einen monatlichen Newsletter ein, der Besitzern von Wargame Construction Kit: Tanks frische Karten frei Haus liefert. Elf Szenario-Disketten für das Spiel hat er da bereits im Angebot, Stückpreis 15 Dollar, 14 weitere sind in Arbeit, dazu drei neue für Battles of Napoleon. Auch die Szenario-Disketten kann man im Abo beziehen; einer dieser Abonnenten ist Peter Simpson in England, deshalb bekommt er Monat für Monat Post von Novastar aus den USA. Novastar verkauft nicht nur die Erweiterungen, sondern auch die Hauptspiele selbst, dazu Patches ($1, im Abo gratis), Datenbank-Updates ($10 für die “Modern Database” mit 350 neuen Einheiten) und Tools wie die Software-Bremse Mo’Slo, damit sich das olle Battles of Napoleon auf rasend schnellen 486ern überhaupt noch vernünftig spielen lässt. Bald folgt ein zweiter monatlicher Disketten-Newsletter mit Szenarios für Steel Panthers. Nur Panzer General bekommt nie Novastar-Erweiterungen, denn das Spiel kommt ohne Editor – und den braucht Landrey zwingend für sein Geschäftsmodell.
Eine Auswahl von Novastar-Produkten aus Peter Simpsons Sammlung: Newsletter, Szenario-Disketten, Beilagen, Korrespondenzen und Original-Versandumschläge.
Für den nötigen Output sorgt zunächst ein Stab von Laien, die in ihrer Freizeit Karten bauen. 30 Dollar zahlt Landrey ihnen für ein Szenario für Battles of Napoleon, 50 Dollar für eines für Tanks. Bald stellt er eigene Designer an, denn Novastar kommt kaum noch hinterher. Als 1996 Wargame Construction Set: Age of Rifles erscheint, sucht Landrey im Newsletter händeringend nach Kartenbauern, um auch dort den Bedarf decken zu können. Bald arbeiten einige der bekannten Namen der Szene für Novastar, Wild Bill Wilder etwa, dessen gründlich recherchierte, sauber ausbalancierte Szenarios bei den Fans sehr beliebt sind. Und weil Novastar die Expertise hat, kauft nun auch SSI bei Landrey ein: Steel Panthers und Age of Rifles erscheinen direkt mit mehreren Dutzend Levels, die Landreys Leute zugeliefert haben. Im Gegenzug enthalten die Handbücher von Steel Panthers & Co. eine Anzeigenseite, die direkt auf die Novastar-Szenarios verweist. Eine Win-Win-Situation für beide Parteien.
Ein Ausschnitt aus dem Novastar-Katalog, Februar 1996: Dutzende von Szenarien auf Diskette.
Es brummt also. So sehr, dass Landrey die nächste große Idee verfolgt. Im Dezember 1996 sinniert er im hauseigenen Newsletter (inzwischen in The War Zone umbenannt) das erste Mal über eine „Mega Campaign“ – eine monatelang laufende Kampagne für das inzwischen erschienene Steel Panthers 2, in der man einen gesamten historische Feldzüge durchläuft, dabei Einheiten von Schlacht zu Schlacht übernimmt, Technologien entwickelt und je nach Erfolg unterschiedliche Verzweigungen erlebt. Die dazugehörigen Karten sollen im Laufe mehrerer Monate nach und nach per Post kommen, im Abo, versteht sich. Die Idee stammt vermutlich aus Panzer General, aber weil Steel Panthers 2 so etwas ab Werk nicht unterstützt, lässt Landrey seinen hauseigenen Programmierer Michael Wood die notwendigen Tools basteln. Es dauert bis Oktober 1997, dann fällt endlich der Startschuss für das epochale Werk: Der erste Teil der Mega-Kampagne erscheint, die im Laufe der Zeit den gesamten zweiten Weltkrieg nachbilden soll. Es hätte Novastars Kronjuwel sein sollen, stattdessen wird es zum Abgesang.
Denn zu dem Zeitpunkt geht es Novastar längst schlecht. Seine drei Vollzeit-Mitarbeiter hat Landrey bereits entlassen, Novastar besteht nur noch aus ihm und seiner Frau Martha. Schon Ende 1996 musste Landrey wieder in Vollzeit bei SSI anheuern, weil das Geld nicht reichte. Novastar hatte sich zum einen geschäftlich überstreckt; die Firma war zu schnell gewachsen, hatte viel zu hohe Kosten. Zum anderen kam ab Mitte der 90er das Internet auf – und damit ein kostengünstiger Zugang zu Daten. Wer sich Szenarios im Netz herunterlädt, braucht kein Disketten-Abo mehr per Post. Als das Ehepaar Landrey im Sommer 1998 auch noch eine ihrer Töchter bei einem Badeunfall verliert, ist ihr Wille zum Weitermachen gebrochen. Zum Dezember 1998 wickelt David Landrey seine Firma ab, acht Jahre nach ihrer Gründung. Und zieht sich für immer aus der Spielebranche zurück; ab da verliert sich seine Spur. Die Idee der Mega-Kampagne lebt in der Wargaming-Szene noch eine Weile weiter, Michael Wood nimmt sie mit zum Entwickler HPS Simulations, um sie für dessen Spiele Tigers on the Prowl und Panthers in the Shadow umzusetzen, 2000 taucht sie in Steel Panthers: World at War von Matrix Games nochmal auf.
Battles of Napoleon in der Novastar-Plastiktüte.
Aber was hat das alles mit meiner Kampfgruppe-Plastiktüte zu tun? Nun, in der großen Kiste mit Peter Simpsons Novastar-Sammlung fand ich zu meiner Überraschung eine zweite solche Tüte, diesmal gefüllt mit Battles of Napoleon: 3,5“-Diskette, kopiertes Handbuch. Denn David Landrey vertrieb über Novastar ja auch die Hauptspiele. Dazu hatte er SSI zunächst deren Restposten alter 80er-Jahre-Titel abgekauft; als die aufgebraucht waren, holte er sich 1994 die Erlaubnis, einen Schwung alter Titel nachproduzieren zu dürfen. Um die Herstellungs- und Versandkosten überschaubar zu halten, verzichtete Landrey für diese Re-Releases auf die Schachtel und sonstige Beigaben. Stattdessen kopierte er das jeweilige Handbuch, schrieb das Programm auf eine 3,5“-Diskette und packte beides, wie alle Novastar-Produkte, in: eine Plastiktüte. So kam Battles of Napoleon zu Peter Simpson. Und so kam auch Kampfgruppe über Umwege zu mir. Dessen Plastiktüten-Version ich jetzt, wo ich seine Geschichte kenne, sogar mehr schätze als die originale Box, die im Regal daneben steht.