Chris:
[0:18] Diese Musik kennt jeder, der das deutsche Rollenspiel Gothic aus dem Jahr 2001 gespielt hat. Die Kriegstrommeln, die tiefen Bläser, diese Melodie, die sich zu einem kurzen Moment des heldenhaften Trotzes hervorarbeitet, nur um sofort wieder im dunklen Dreuen zu verschwinden. Es ist die Musik, die im Titelbildschirm läuft und sie sagt, das, was vor dir liegt, ist abenteuerlich, aber vor allem ist es bedrohlich und ungewiss. Es ist das markanteste Stück eines Soundtracks, der sich ab dann zurücknehmen wird, um das zu tun, was nun mal die Rolle eines Soundtracks ist, sein Spiel zu tragen. Ein Soundtrack, der maßgeblich zur einzigartigen Atmosphäre von Gothic beiträgt, gerade weil er weitgehend auf einprägsame Melodien verzichtet, der aber trotzdem in Erinnerung bleibt, vielleicht eher im Herzen als im Kopf. Aber wie genau macht dieser Gothic-Soundtrack das eigentlich? Wie ist er entstanden?
Chris:
[1:12] Davon wird uns der Mann erzählen, der diese Musik geschrieben hat, Kai Rosenkranz. Der eigentlich gar keine Musik machen wollte, der dann bei Piranha Bytes mit einem sehr ungeliebten Werkzeug arbeiten musste, das aber dazu geführt hat, dass jeder von uns einen anderen Gothic-Soundtrack hört. Bei der Produktion musste Kai harte Lektionen lernen und viel improvisieren, aber er hat anschließend eine Karriere auf diesem Debüt-Musikwerk aufgebaut. Das ist die Musik von Gothic. Wir beginnen den Weg hin zu Gothic in Kais Kindheit, denn dort beginnt zunächst mal sein Weg zur Musik.
Kai:
[2:16] Also Berührungspunkte mit Musik habe ich schon mein ganzes Leben, weil meine Eltern beide musikalisch interessiert sind. Man kann sich die beiden wie so ein Hippie-Pärchen vorstellen. Mein Papa Gitarre, meine Mutter Gesang, auch entsprechend gekleidet. Das habe ich natürlich ein paar Mal mitbekommen. Also meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch relativ jung war, aber ich habe es noch mitbekommen. und es ist danach auch noch weitergeführt worden. Also mein Papa hat immer das Zimmer voller Instrumente gehabt, wenn ich dann bei ihm war und wir haben zusammen Musik gemacht und meine Mutter genauso. Ich habe dann mein eigenes Keyboard irgendwann bekommen, so ein altes Casio-Keyboard. Und mein Zugang zu Musik war, das Keyboard stand halt in meinem Zimmer, genauso wie die anderen Instrumente in unserer Wohnung irgendwie sich nicht aufgedrängt haben, sie mir auch nicht aufgedrängt wurden, aber sie waren halt da, sie standen zur Verfügung. Und im freien Spiel, wo ich mir meine Zeit einteilen und sie für mich nutzen konnte, waren diese Instrumente genauso da wie die Fischer-Technik-Box und dann irgendwann der C64. Das heißt, ich habe halt immer wieder dann einfach die Nähe gesucht zu diesem Instrument. Habe es angemacht, habe rumexperimentiert. Ich hatte aber keinen Klavierlehrer oder sowas, das kam dann erst später, sondern ich habe mich ganz natürlich und ganz intuitiv mit diesem Instrument auseinandergesetzt. Und das ist so peu à peu für mich auf meine Weise und auf, heute würde man sagen, völlig falsche, in großen Anführungsstrichen, Weisen für mich erobert.
Chris:
[3:44] Irgendwann merkt Kais Mutter, dass ihr Sohn Interesse an Musik und Talent dafür hat, dass er anfängt, eigene Musikstücke zu schreiben. Und dann tut sie das, was Eltern in solchen Fällen nun mal machen. Sie meldet ihn zum Klavierunterricht an.
Kai:
[3:58] Dann habe ich, glaube ich, vor meinem zehnten Lebensjahr an Klavierunterricht gehabt. Allerdings nicht lange, weil mein Klavierlehrer, der war wirklich gut, aber der hat halt einen ganz anderen Ansatz gehabt. Der hat gesagt, okay, wir müssen jetzt erstmal die theoretische Grundlage schaffen. Und so wie du das machst, macht man das eigentlich nicht. Man macht die Finger anders und hier, das ist ein Notenblatt. Und guck mal, das sind Noten, das kennst du ja vielleicht. Der hat mich dann immer dabei ertappt, wie ich freigespielt habe und nur so zu ziert auf das Notenblatt geguckt habe. und dann auch irgendwann mal nicht gemerkt habe, dass ich schon längst hätte umblättern müssen. Und dann haben wir irgendwann gemerkt, dass wir einfach nicht zusammenpassen. Oder er hat es gemerkt und ich habe ihm zugestimmt.
Chris:
[4:36] Nach rund eineinhalb Jahren ist das Abenteuer Klavierunterricht wieder vorbei. Kai macht autodidaktisch weiter. Er bringt sich alles Weitere selbst bei. Doch da gibt es noch eine zweite Leidenschaft in seinem Leben, die sich schnell als noch prägender herausstellt. So prägend, dass er früh für sich beschließt, dass dorthin sein Lebensweg führen soll.
Kai:
[4:58] Also ich habe auf jeden Fall schon sehr früh gemerkt, dass ich was mit Games machen möchte. Deswegen habe ich im privaten Rahmen schon damit angefangen, Habe eigene kleine Projekte gemacht, habe eigentlich schon, sobald ich meinen C64 mit sieben Jahren bekommen habe, angefangen mit dem darauf ja vorhandenen Basic auseinanderzusetzen und habe dann, ich glaube, ich war 15 und mein Companion war 18. Wir haben dann eine kleine eigene Softwarefirma gegründet, die MediArt GmbH und haben neben Bürosoftware spannenderweise, um uns quasi finanziell über Wasser zu halten, dann auch kleine Spiele entwickelt. Mein erstes Computerspiel, kann man eigentlich gar nicht so nennen, war ein Tamagotchi-Clone. Cybergotchi hieß das damals. Und dann habe ich angefangen, mein erstes größeres Spiel zu entwickeln, nämlich Subworld. Das ist quasi so ein Unterwasser-Komane-Kanker gewesen, wenn man sich das so vorstellen möchte. Darauf aufbauend hat sich der Entschluss gefestigt, gerne in die Games-Branche gehen zu wollen. Und dann habe ich gesagt, ich möchte eigentlich gerne mal ein paar Studios besuchen. Und da kam dann eben auch der Kontakt zu Piranha Bytes zustande. Weil ich in einem Artikel gelesen habe, das Bochumer Entwicklerstudio arbeitet an einem Rollenspiel und ich bin selber Bochumer, habe in Bochum gewohnt, habe dann angerufen, habe den fantastischen Tom Putzki am Telefon gehabt und kurz danach haben wir uns dann auch schon persönlich getroffen.
Chris:
[6:16] Tom Putzki ist einer der vier Gründer von Piranha Bytes, das im Jahr 1997 entsteht und dann anfängt, am Rollenspiel Gothic zu arbeiten. Als Kai Ende 1997 bei Piranha Bytes anklopft, ist er 17 Jahre alt, geht noch aufs Gymnasium, hat noch zwei Jahre vor sich bis zum Abitur und hat eigentlich gar nicht Musik im Kopf. Bei diesem Projekt Subworld ist ein Freund für den Sound zuständig. Kai kümmert sich um die Programmierung und die Grafik. In die Richtung soll es seiner Vorstellung nach auch weitergehen. Aber dann kommt es ganz anders.
Kai:
[6:50] Das heißt, ich hatte Tom am Telefon und habe gesagt, darf ich euch mal für einen Tag besuchen? Weil ich möchte mich festlegen und ich habe auch hier zu Hause so ein paar Kämpfe mit meinen Eltern auszufechten, ob jetzt die Games-Branche wirklich das Richtige für mich ist. Ich möchte es jetzt mal wissen. Ich war ja auch bei Blue Byte in Mühlheim und ich war eben dann auch bei Piranha Bytes für diesen Besuchstag. Da hat sich dann im Gespräch herausgestellt, der macht das, der macht das. Für Audio haben wir noch niemanden. Und ich habe dann erst gesagt, okay, ich könnte ja mal meine Sachen vorbeibringen, die ich so gemacht habe bisher. Vielleicht kann ich mich ja irgendwie mit einbringen. Und bin dann nochmal hingekommen und habe meine ganzen Materialien mitgebracht. Aber auch Sachen an Musik. Dann habe ich extra für diesen Termin auch noch so ein paar Sachen eingespielt zu Hause und habe die noch mitgenommen. Und dann haben sie gesagt, okay, das sieht als Gesamtpaket interessant aus. Dann habe ich erst mal so ein halbes Jahr, war, glaube ich, so eine Probevereinbarung mit denen unterzeichnet. Und dann bin ich halt in die tatsächliche Selbstständigkeit, also habe einen Honorarvertrag bekommen und bin dann offizielles Mitglied von Piranha Bytes gewesen.
Chris:
[7:54] Das war dann im Jahr 1998. Zu dem Zeitpunkt arbeitet Kai von zu Hause aus, denn in den Büros von Piranha Bytes ist gar kein Platz für ihn. Die vier Gründer teilen sich einen kleinen Raum in der Nähe des Bochumer Stadtparks. Erst als das Studio 1999 nach Bochum-Wattenscheid umzieht, bekommt auch Kai dort ein eigenes Büro. Das Team von Piranha Bytes hat schon früh eine Vorstellung davon, was ihr Spiel werden soll und vor allem, wie es sich anfühlen soll. Kai erhält nun die Aufgabe, das in Musik zu übersetzen. Dafür bekommt er vom kreativen Leiter des Teams, von Mike Hoge, freie Hand.
Kai:
[8:39] Also es gab keine inhaltlichen Vorgaben, die auf der Ebene der Musik oder in der Sprache der Musik formuliert waren. Also sowas wie, mach das mal in Moll und in 140 BPM oder sowas. Auf der Ebene wurde überhaupt nicht kommuniziert, sondern es wurde, was mir sehr entgegenkam, eigentlich auf der Ebene der Emotionalität kommuniziert. Das und das ist das Gefühl, das erreicht werden soll. Oder einfach so Hintergrundinformationen. Wenn es jetzt um die Musik im Anfangsgebiet ging, Kai, da ist ein Charakter, der heißt Diego. Mit dem redest du, während die Musik im Hintergrund läuft. Und der ist eigentlich ein freundlicher Charakter. Also kann die Musik so ein bisschen ambivalent sein. Sie soll die Düsterheit und die Unwirklichkeit der Welt tragen und transportieren, aber auch so ein bisschen dich an die Hand nehmen, im Sinne von, guck mal, hier ist ein Licht in dieser dunklen Welt, das bringt dich jetzt erstmal zum alten Lager und das ist der Diego. Also auf der Ebene wurde kommuniziert und die Übersetzung in Musik lag dann aber komplett bei mir.
Chris:
[9:35] Kai kommt das sehr entgegen, denn er hat eine spezielle Art zu komponieren, die daraus entstanden ist, wie er sich in seiner Kindheit und Jugend die Musik selbst erschlossen hat.
Kai:
[9:46] Ich habe einen emotionalen, intuitiven Zugang zur Musik Und das hilft mir gerade total, weil ich immer wieder in Situationen bin, wo ich anhand von wenigen Concept Arts oder einer rudimentären 3D-Landschaft eine Location spüren können muss und dann irgendwie in Musik übersetzen können muss. Auch ohne, dass es jetzt schon wirklich was Spürbares gibt. Und dann einfach zu sagen, ich mache die Augen zu und mein Körper, also meine Hände sprechen jetzt Musik quasi als zweite Muttersprache, wenn du so willst. Und dann passiert irgendwas auf den Tasten, was ich selber nicht so genau erklären kann. Und dann kann ich das wiederum analysieren, ob das jetzt die gleiche emotionale Aussage hat wie das, was ich in diesem Bildmaterial sehe. Und dann nehme ich das auf und habe eine erste musikalische Idee. Und diese andere Herangehensweise, das jetzt über Musiktheorie und Noten und Harmonielehre zu machen, würde für mich, glaube ich, einfach nicht funktionieren, weil es mich nicht interessiert. Also da bin ich nicht intrinsisch interessiert dran und könnte das dementsprechend auch nie so als kreativen Fluss erleben, der einfach in die richtige Richtung strömt.
Chris:
[10:51] Nun gibt es da aber ein Problem. Kai ist in einer Zeit in die Spielebranche eingestiegen, in der es noch eine technische Herausforderung ist, Musik in so ein Spiel reinzukriegen. Ja, zu dem Zeitpunkt kommen die Spiele schon auf CD-ROMs, aber das heißt noch nicht unbedingt, dass man einfach komplette Stücke als Datei auf den Datenträger ablegen kann, allein schon aus Platzgründen, aber zumal dann nicht, wenn die Musik dynamisch sein soll, also wenn sie auf das reagieren soll, was im Spiel passiert. Und so soll das bei Gothic sein. Piranha Bytes hat sich auch schon für eine Lösung entschieden, für ein Tool, das bereits im Markt existiert und das praktischerweise auch nichts kostet. Und so wird Kai vor vollendete Tatsachen gestellt.
Kai:
[11:33] Gewohnt war ich es ja, von mir am Klavier erstmal anzufangen und dann in meiner gewohnten Musiksoftware in Cubase, das dann einfach aufzunehmen und dann zu arrangieren. Aber die Musik für Gothic wurde mit dem Direct Music Producer gemacht. Ein Tool, was von Microsoft irgendwann mal für Direct Music, also ein Teil von DirectX gewesen zu dem Zeitpunkt, hergestellt wurde für dieses Thema interaktive Musik. Das war neu, das hat überhaupt nicht gut funktioniert, aber es war halt das Tool der Wahl jetzt für den Gothic-Soundtrack.
Kai:
[12:04] Beim Direct Music Producer ist es quasi so wie Musik programmieren. Da wird Musiklogik eigentlich hinterlegt. Wie verhält sich die Musik, wenn im Spiel das und das passiert? Das heißt, man gibt es als Noten ein für jedes einzelne Instrument und es wird dann live von dem Direct Music Producer während des Spiels performt. Jede einzelne Violinennote, jede einzelne Bläsernote ist quasi nur als Notenmaterial in dem Direct Music Producer hinterlegt, als MIDI-Daten. Und dann gibt es dieses virtuelle Orchester, das mit dem Spiel mit ausgeliefert wird, als einzelne Audiodateien und im Spiel wird es dann live performt. Das, was man heutzutage in seiner Musik-Workstation macht, in seiner DAW, Digital Audio Workstation, und dann wird das rausgerendert als Audiodatei, dann kann man da noch ganz viel Polishing dran machen und dann hat man ein schönes Musikstück. Das gab es zu dem Zeitpunkt nicht, also zumindest nicht im Direct Music Producer, sondern das wurde halt live performt Und dementsprechend hatten wir auch nur die Möglichkeiten, die der Direct Music Producer bietet für sowas wie Mixing und Mastering und Hall-Effekte. Das waren alles Sachen, wo der Direct Music Producer einfach so eine erste Iteration von allem hatte, aber eben noch nicht richtig ausgearbeitet. Und es hat alles nicht so richtig funktioniert.
Chris:
[13:19] Kai improvisiert also am Klavier Melodien und Harmonien und dann muss er sie in Puzzleteile zerlegen und in die Sprache des Direct Music Producer herunterbrechen, als digitales Regelwerk, aus dem sich Musikstücke zusammensetzen. Im Spiel geschieht dieses Zusammensetzen dann dynamisch, vom Zufall beeinflusst, immer wieder anders. Um das besser nachvollziehen zu können, haben wir Kai gebeten, uns anhand seiner Musik zu erklären, wie genau das funktioniert, welche Gedanken hinter der Musik stecken und wie sich das Stück dann zusammensetzt. Er hat sich drei der zentralen Musikstücke aus dem Gothic-Soundtrack ausgesucht und für uns kommentiert. Und wir beginnen natürlich mit der Musik des Minentals.
Kai:
[14:03] Die Hintergrundmusik für das Minenteil selbst, außerhalb von Lagern oder besonderen Locations, ist eines der ersten Musikstücke, von denen man in Gothic überhaupt begrüßt wird. Und das hier ist der wiedererkennbare Anfang dieses Musikstücks.
Kai:
[14:28] Wir können das Musikthema auch gleich nochmal komplett anhören, aber vielleicht macht es Sinn, euch jetzt erstmal was über meine Gedanken dazu zu erzählen, damit ihr diese dann später beim Anhören des Songs vielleicht auch wiedererkennen könnt. Und ich beginne ja beim Komponieren immer damit, mir über die Emotionen Gedanken zu machen, die ein Musikstück bei Spielerinnen und Spielern auslösen soll. Und dieses Musikstück repräsentiert die Minenkolonie als Ganzes. Das läuft also, wenn man die Gebiete zwischen den Lagern erkundet. Und mir ging es bei diesem Musikstück vor allem darum, so ein gewisses Spektrum aufzuspannen und quasi dieses emotionale Terrain einmal abzustecken, in dem sich das Spiel bewegt. Wir sind in einer Gefängniskolonie, die ist riesig und weitläufig, aber trotzdem ja auch irgendwie so fast unter so einer erdrückenden Last dieser magischen Barriere eingesperrt. Das heißt, eine emotionale Skala könnte von Bedrückung und Einigung auf der einen Seite hin zu Freiheit und Exploration und Größe und Weite auf der anderen Seite gehen. Und die Musik schwankt dementsprechend immer so ein bisschen zwischen bedrückend, bedrohlich auf der einen Seite und einladend, hoffnungsvoll, frei, weit auf der anderen Seite. Direkt am Anfang alterniert dieses Musikstück also in den Harmonien immer abwechselnd zwischen Dur und Moll, legt sich also nicht so richtig fest, ob es den Spieler jetzt angesichts dieser harschen Gefängniswelt eher einschüchtern möchte oder eher zum Erkunden einladen will. Hören wir mal rein.
Kai:
[15:55] Moll, Dur, dann wieder Moll und wieder Dur und so weiter. Und diese Ambivalenz im quasi emotionalen Grundton ermöglicht es den Spielenden dann einerseits das Idyll der Landschaft zu genießen und musikalisch entsprechend dann auch unter Mahl zu bekommen, sich aber dennoch auch stets der allgegenwärtigen Bedrohung bewusst zu bleiben. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, wie klein oder groß ein Musikstück wirken soll. Zum Beispiel sind Musikstücke für enge Dungeons eher klein instrumentiert, sollen ein beklemmendes Gefühl vermitteln, während dieses Oberweltmusikstück, also für uns heißt die gesamte Außenwelt zwischen den Lagern, die hieß damals einfach Oberwelt, die soll sich offen, weitläufig und vielseitig anhören. Dazu habe ich mich dann einiger Kniffe bedient. Die technischen Möglichkeiten im Direct Music Producer, mit dem ich ja die Musik damals erschaffen musste, die waren jetzt sehr eingeschränkt. Ich habe aber trotzdem versucht, der Musik eine gewisse hörbare Weite zu geben. Im Mix wird zum Beispiel nicht nur das komplette Stereospektrum ausgenutzt. Das heißt, im Mix werden Instrumente jetzt nicht nur so ein bisschen nach links und rechts geschoben, sondern man hat auch so ein bisschen das Gefühl der Ausdehnung in die Tiefe, sodass zum Beispiel manche Sachen näher dranklingen. Sie haben dann weniger Raumhall.
Kai:
[17:20] Andere klingen so, als würden sie in den hinteren Reihen des Orchesters verortet sein und kommen dann entsprechend halliger und so ein bisschen von weiter weg bei den virtuellen Ohren an. Und das Ganze im Mix schafft dann einen akustischen Raum, der hörbar recht groß ist. In dem Beispiel, was ich jetzt im Hintergrund spiele, ist zum Beispiel die Harfe ziemlich weit vorne links und die zittrigen Tremolo-Streicher sind weiter rechts hinten. Und so hat man dann sozusagen sowohl von links nach rechts als auch von vorne nach hinten so ein bisschen den Raum aufgespannt.
Kai:
[18:02] Im Übrigen wechselt das Musikstück auch ständig zwischen Dreivierteltakt und Viervierteltakt hin und her. Achtet hier mal auf den Übergang. Wir kommen aus einer Vierviertelpassage in einen Dreiviertelteil. 1, 2, 3, 4 1, 2, 3, 4 Pause 1, 2, 3 1, 2, 3 1, 2, 3, Mir war bewusst, dass man dieses Musikstück beim Spielen lange und häufig hören wird. Deshalb wollte ich es so abwechslungsreich wie möglich gestalten und hielt es sogar für sinnvoll, die grundlegende Rhythmik regelmäßig zu ändern, damit man sich nicht so schnell satt hört. Es gibt sogar Passagen, die regelrecht arhythmisch klingen, um das rhythmische Raster immer wieder zu durchbrechen. Versucht beim folgenden Schnipsel mal zu erkennen, um welches Taktmuster es sich handelt.
Kai:
[19:09] Gar nicht so leicht, sich da zu orientieren. Dadurch verhindere ich, dass die Musik in einen sich ständig wiederholenden Trott verfällt. Ich hatte ja schon erwähnt, dass der Direct Music Producer es auch ermöglicht, verschiedene musikalische Puzzleteile immer wieder so neu zu rekombinieren, um noch mehr Abwechslung zu generieren. Hier hört man zum Beispiel jetzt dreimal hintereinander den exakt gleichen Part, so nennt man im Direct Music Producer eine kleine atomare Musikeinheit. Die Melodie ist aber in einem Part gar nicht vorhanden oder in einer Variation dieses Parts gar nicht vorhanden. In den anderen beiden Parts ist sie aber jeweils abgewandelt unterschiedlich. Variante 1 ohne Melodie. Variante 2 mit Melodie.
Kai:
[20:05] Variante 3 mit abgewandelter Melodie, Das ist innerhalb der Logik des Direct Music Producers immer der gleiche Part und in welcher Reihenfolge man diese Variation nun im Spiel hört, ist dem Zufall überlassen. Auch das sorgt dafür, dass die Musik weniger vorhersehbar und dadurch abwechslungsreicher wirkt. Ein letzter Gedanke, den ich mit euch teilen möchte, betrifft die Instrumentierung. Diese Oberweltmusik begleitet ja Spielsituationen in der freien Natur. Dementsprechend natürlich und authentisch soll die Musik auch klingen. Meine virtuellen Instrumente wie die Streicher und Bläser klingen aber teilweise sehr synthetisch. Deshalb habe ich mich damals auch auf die Suche nach Elementen gemacht, die einfach echt klingen, um diese in der Musik hineinzumischen und sie dadurch in der echten, natürlichen Welt zu verankern. Andere Musikstücke im Gothic-Soundtrack klingen bewusst artifiziell und nutzen vordergründig synthetische Elemente, aber in diesem Fall ging es mir um einen natürlichen Klang. Hier mal ein paar Beispiele für Samples, die ich wie Gewürze in diese synthetische.
Kai:
[21:04] Musiksuppe gemischt habe, um ihr einen natürlichen Geschmack zu geben.
Kai:
[21:20] Die stammen jetzt übrigens alle, für die dies genau wissen wollen, von einer Library, die es glaube ich gar nicht mehr zu kaufen gibt, nämlich Heart of Africa von Spectrosonics. Und nun hier wie versprochen das Musikstück ohne Unterbrechung. Ich kann ja nicht von in voller Länge sprechen, da die Musik ja zufällig zusammengesetzt wird und es theoretisch immer wieder neue Varianten geben kann.
Kai:
[21:38] Aber zumindest hören wir mal ungestört eine Weile rein.
Chris:
[23:16] Der ungeliebte Direct-Music-Producer, mit dem Kai viel zu kämpfen hat, führt einerseits zu den ganzen Variationen innerhalb eines Lieds. Er hat aber andererseits auch noch einen zweiten Mehrwert. Weil die Stücke aus flexiblen Bausteinen bestehen, kann man sie ineinander übergehen lassen und also dynamische Übergänge schaffen.
Kai:
[23:35] Das ist der große Vorteil und auch der große Vorteil der Musik von Gothic 1 und 2 gegenüber allen weiteren Soundtracks, die ich komponiert habe. Dass es eben genau diesen interaktiven, adaptiven Ansatz auf die Spitze getrieben hat. Selbst wenn der Spieler nichts gemacht hat und einfach nur rumgestanden hat, hat die Musik sich immer wieder neu arrangiert. Und wenn ich jetzt zum Beispiel das Schwert ziehe oder in eine andere Location gehe, dann werden entsprechende musikalische Brücken geschlagen. Also es wird wirklich ein kleines Notenmaterial eingefügt zwischen dem Stück davor und dem Stück danach. Und auch da kann man jetzt wieder Regeln hinterlegen, wenn ich von A nach B kommen möchte, welches ist dann die beste Transition dazwischen. Und dann geht eben das Musikstück B los und das randomisiert dann auch wieder vor sich hin mit den verschiedenen Instrumentenvariationen.
Kai:
[24:48] Es hat mich wirklich Kopfschmerzen gekostet. Ich bin tatsächlich auch mit großer Freude dann bei Gothic 3 auf das neue Musiksystem rübergewechselt. Aber natürlich weint man diesen Möglichkeiten der Interaktivität schon so ein bisschen die ein oder andere Träne hinterher. In den alten LucasArts Adventures gab es sowas auch mit diesem Almuse-System, dass die wirklich auch so musikalische Brücken geschlagen haben. Aber in dem Genre, in dem ich jetzt unterwegs bin, habe ich das sonst auch in keinem anderen Spiel in der Form so gesehen und erlebt.
Chris:
[25:23] Kais Auftraggeber und zentraler Ansprechpartner für die Musik in Gothic ist Mike Hoge, der Chefdesigner im Team von Piranha Bytes. Mit ihm spricht Kai die Anforderungen ab, arbeitet dann ein Musikstück aus und legt es ihm dann wieder vor. Das läuft anfangs nicht so gut.
Kai:
[25:42] Zu dem Zeitpunkt habe ich noch den großen Fehler gemacht, der hat mich auch sehr lange begleitet in meiner Karriere, dass ich dann versucht habe, wirklich ein fertiges Musikstück zu machen, damit ich, wenn ich dann bei Mike sitze und ihm das vorspiele, nicht noch dazu erklären muss, was alles sich noch ändern wird in meinem Kopf, sondern dass es schon für sich spricht. Und habe dementsprechend viel Zeit investiert, schon Ideen zu polishen, bevor ich sie präsentiere. Und Mike, der hat ja eine faszinierend ehrliche, aber doch irgendwie charmante Art, einem Feedback zu geben. Also wenn er das nicht mag, dann spürst du das auch, aber kannst es ihm trotzdem nicht übel nehmen. Ich weiß nicht, wie er das macht. Habe ich auch noch nie seitdem so erlebt bei jemandem. Also selbst wenn er sagt, das ist völlig scheiße, Ist das irgendwie okay? Weil du weißt, er hat das für sich in seinen Kopf, in sein Bild, in seine Vision eingefügt und hat sich das vorgestellt, wie das im Spiel wirkt und hat festgestellt, das passt nicht zu seiner Vision. Und dann ist es halt so, dann muss ich das halt nochmal ändern. Und das hat für mich auch ein paar Jahre gebraucht, um dann zu dem Modus zu kommen, erstmal kleine Ideen nur so als Skizze anzufertigen, als musikalische Skizze, dann schon mit ihm zu kommunizieren, auch wenn es noch nicht perfekt ist und noch nicht ausgearbeitet ist, aber dann schon früh dieses Feedback einzuholen und dann eben weiter zu iterieren. Habe ich mich an ihm abgerieben und das dadurch gelernt.
Chris:
[27:03] Zum Lernen gehört auch, dass sich Kai darauf einstellen muss, wenn sich das Spiel verändert. Und das tut es im Laufe der mehr als drei Jahre Entwicklungszeit mehrfach. Ein Beispiel. Relativ spät in der Entwicklung ergibt sich für Piranha Bytes eine Kooperation mit der deutschen Mittelalterband in Extremo. Es wird beschlossen, dass die Musiker als 3D-Figuren im alten Lager auftreten sollen, also in einem der bewohnten Orte im Spiel, und dort ein Lied singen und spielen. Darauf hat Kai zunächst mal keinen Einfluss.
Kai:
[27:35] Nein, also ich hatte mit der Aufnahme der Musik nichts zu tun. Das hat InExtremo auch komplett selber gemacht. Das haben die für uns so vorbereitet und mit ihrem Label so abgestimmt. Ich war dabei, als wir im, ich glaube HZO hieß es, in Oberhausen die Motion Capture Aufnahmen mit InExtremo gemacht haben. Und ich habe es natürlich hinterher technisch implementiert. Weil ich musste das jetzt irgendwie in den Direct Music Producer reinholen, damit es über das gleiche System läuft. Das ist ein Stück, das aus einem langen Sample besteht, das aber ansonsten in der gleichen technischen Umgebung lebt wie die andere Musik auch.
Chris:
[28:29] Nun ist das zwar ein sehr schönes Stück, aber Gesang kommt in Kai’s Soundtrack bisher gar nicht vor und auch stilistisch ist der In Extremo-Song ein gewisser Fremdkörper. Was tun? Nun, worauf Kai Einfluss hat, ist seine eigene Musik, nämlich in dem Fall die des alten Lagers, in dem der Band auftritt, stattfindet. Und dieses Stück, das im fertigen Gothic dann im alten Lager läuft, nimmt Kai für uns jetzt genauer unter die Lupe.
Kai:
[28:56] So, als nächstes befinden wir uns nun musikalisch im alten Lager. Hier sitzen die mächtigen Erzbaronen in einer Burg, die von einem Außenring aus schlichten Holzhütten umgeben ist. Die Musik, um die es jetzt gehen soll, ist für den Außenring gedacht. Das hier ist ein kurzer Auszug aus diesem Musikstück. Für das alte Lager hatte ich etliche Musikvariationen gemacht, bis dann irgendwann klar war, dass in Extremo ein Konzert im Alten Lager geben und dort die schwedische Mittelalterballade Herr Manelich darbieten wird. Deshalb setzte ich mir in den Kopf, diesem Auftritt einen musikalischen Rahmen zu geben und die Musik des Alten Lagers an Herr Manelich anzulehnen. Ich wollte die Melodie aber nicht eins zu eins nachmachen, deshalb habe ich sie leicht abgewandelt. Sie ist natürlich immer noch gut erkennbar, aber eben nicht identisch. Das hier ist die Originalmelodie von Herr Manelich.
Kai:
[29:59] Und das ist die abgewandelte Form, die man in meinem Soundtrack zum alten Lager zu hören bekommt. Dieser etwas beschwingte mittelalterliche Style erschien mir sehr passend für den Außenring, in dem ja zuweilen recht viel los ist. Auch hier sollte aber die Melancholie und allgegenwärtige Unterdrückung hörbar werden, weshalb die Hermannelich-Hommage immer wieder unterbrochen wird von bedrohlichen Teilen wie diesem hier. Außerdem schmiegt sich der Außenring ja an die Burgmauer und diese neben die emporragenden Mauern der inneren Burg wollte ich auch irgendwie in der Musik aufgreifen. Ich gab dem Revier der Erzbarone einen militärischen Anstrich und entschied mich für fanfarenartige Bläserpassagen und Snare-Drums, um die Präsenz der Burg zum Ausdruck zu bringen. Das klingt dann so.
Kai:
[31:09] Auch hier im alten Lager machte ich mir wieder das Prinzip der Zufallsvariationen zunutze. Die folgenden drei Varianten sind wieder der gleiche Part, der nur jedes Mal eine zufällige Harfenbegleitung mit einem anderen zufälligen Melodieinstrument mischt. Variation 1 ohne Melodieinstrumente, Variation 2 mit zwei Blasinstrumenten.
Kai:
[31:40] Variation 3 mit einem anderen Bläsermotiv. Und noch eine Variation mit nochmal anderen Bläsern. Das Ganze gibt es dann auch nochmal in einer anderen Tonart für noch mehr Variationen. Hier eine Variation mit Streichern im Vordergrund.
Kai:
[32:10] Und diesmal variieren wir den Hintergrund, nämlich die Melodie der Harfe. Jetzt ganz ohne Melodie Instrument, dafür aber mit Snaredrums. Jetzt mit Streichern, Bläsern und Snaredrums. Und für die Bläser gibt es dann auch noch mal alternative Motive. Auch hier gilt wieder, technisch gesehen ist das alles der gleiche Part. In diesem Part sind diese unterschiedlichen Elemente jeweils mit Zufallsvariation hinterlegt, die dann im Spiel laufend neu rekombiniert werden. Daraus ergibt sich aus relativ wenig musikalischem Material dann doch ein Soundtrack, der abwechslungsreich bleibt und nicht langweilig wird.
Chris:
[33:34] Wir hatten es gerade schon von Kai gehört. Er hatte für das alte Lager mehrere Musikstücke geschrieben, bevor dann die finale Fassung in Anlehnung an Herr Mannelich entstand. Diese Versionen sind erhalten geblieben, denn Kai hat sie vor einigen Jahren der Gothic-Community zur Verfügung gestellt, zusammen mit mehr als drei Dutzend teils vorläufigen, teils nie verwendeten Liedern aus der Alpha- und Beta-Phase des Spiels. So hätte das alte Lager ursprünglich mal klingen sollen. Nun müssen wir noch mal zur Technik zurückkehren. Denn da Kai die Musik im Direct Music Producer zusammengebaut hat, besteht sie nicht nur aus einzelnen Arrangement-Bausteinen, sondern auch aus einzelnen Instrumenten. Und die müssen ja irgendwo herkommen.
Kai:
[34:58] Also 90 Prozent, würde ich sagen, des Sample-Materials sind Orchester-Instrumente gewesen, die man so als virtuelle Instrumente kaufen kann, die ich dann nicht eins zu eins verwenden konnte. Das darf man auch gar nicht. sondern ich habe sie dann schon zum Beispiel zusammengefasst, gelayert. Also wenn ich zum Beispiel jetzt eine Violine, eine Bratsche, einen Cello und einen Kontrabass als virtuelle Instrumente gekauft habe, dann habe ich Cello und Kontrabass und Violine und Bratsche schon zusammengefasst. Das war auch notwendig, weil ich durfte, glaube ich, insgesamt nur 120 MB für das komplette virtuelle Orchester benutzen, wenn ich mich jetzt nicht vertue. Das heißt, ich musste auch ganz viel zusammenfassen. Dann habe ich aus diesen existierenden virtuellen Instrumenten meine eigenen virtuellen Instrumente geremixed, habe ganz viel gekürzt. Also da, wo in dem Originalinstrument, wenn ich jetzt einen Ton anschlage und halte für 10 Sekunden, ich wirklich ein 10 Sekunden Audio Sample abgespielt habe, war meins halt nur 3 Sekunden lang und hat dann relativ schnell geloopt, auch wieder aus Platzgründen. Aber die Originalaufnahmen von dem Orchester tauchten darin noch auf. Und die anderen 10% sind von mir selbst gespielte Instrumente, zum Beispiel die Gitarre habe ich live eingespielt, Percussion Samples habe ich live eingespielt.
Kai:
[36:17] Eine Mutter Monika hatte ich live eingespielt, eine Maultrommel und so Sachen, die ich halt so noch rumliegen hatte bei mir, eine Rassel glaube ich, teilweise meine eigene Stimme für einzelne Musikstücke. Und daraus hat sich dann dieses 120 MB große Gothic-Orchester zusammengesetzt.
Chris:
[36:39] Ich wollte an dieser Stelle Beispiele für die Mundharmonika und die Maultrommel einspielen, die Kai gerade aufgezählt hat. Das sind ja beides prägnante Instrumente. Also habe ich mich im Direct Music Producer durch die Instrumentendatei von Gothic gewühlt und mich dann verzweifelt an Kai gewandt. Du Kai, ich finde hier keine Mundharmonika und keine Maultrommel. Und daraufhin sagte Kai, die Mundharmonika kam tatsächlich erst später dazu, beim Soundtrack zum Gothic 2 Add-on Die Nacht des Raben. Da klingt sie dann so.
Chris:
[37:22] Und die Maultrommel, sagt Kai, die begleitet ihn bis heute. Die liegt neben ihm auf dem Schreibtisch und die hatte er damals wirklich aufgenommen und hatte eigentlich vor, sie in einer etwas tiefer gepitchten Variante für die Musik des Sumpflagers einzusetzen. Aber dann hat er sich am Ende dafür entschieden, sie doch durch einen synthetischen Sound zu ersetzen. Aber, so sagt Kai, diese Maultrommel ist dann später noch in mehreren seiner Soundtracks zu Ehren gekommen, zum Beispiel im Lernspiel Lilly und Leo von 2024. Nun, und wenn Kai während der Entwicklung von Gothic Instrumente für seine Musik aufnehmen konnte, dann konnte er natürlich auch Klänge für die Soundeffekte des Spiels aufnehmen, denn auch für die war Kai zuständig.
Kai:
[38:33] Bei den Soundeffekten ist das Verhältnis auch ungefähr 90% zu 10%. 90% bestehen aus käuflich erwerblichen Libraries, Sound Libraries. Da habe ich wirklich, also ich würde jetzt mal schätzen, 80 CDs oder mehr, 100 CDs mit Sound Libraries im Büro gehabt. Tom hatte irgendwann mal so einen günstigen Fang gemacht und von Sound Ideas The General 6000 gekauft. Das sind allein 40 CDs mit Sound Effekten. Dann habe ich irgendwie noch einige Sound Libraries dazu gekauft. Daraus bestehen 90 Prozent und auch da sind wieder 10 Prozent selbst aufgenommen. Im Bereich Foley, also so Rüstungsklappern, Klamottengeräusche, Schmatzen, Beißen, also in Äpfel und sowas reinbeißen. Solche Sachen habe ich dann auch selber aufgenommen. Und für die Magie-Effekte und für die Kreatur-Sounds habe ich auch einige Sachen selber aufgenommen. Ins Mikro gebrüllt und gegrunzt und alles mögliche merkwürdige Zombie-Geräusche gemacht. Das habe ich seitdem auch immer wieder gemacht. Also bei den Kreaturen, in allen Spielen, für die ich die Soundeffekte gemacht habe, hört man immer auch eine ganze Menge Kai mit.
Chris:
[39:40] Die Klänge, die Kai für die Musik von Gothic verwendet, basieren meistens auf echten Instrumenten, aber nicht immer. Denn Kai klebt für Gothic nicht dogmatisch am Orchestersound, sondern wählt die Instrumentierung so, dass sie zu der Stimmung passt, die er rüberbringen möchte. Das zeigt sich gut an der Musik des neuen Lagers. Und auch hier schildert uns Kai nochmal selbst, wie die entstanden ist und wie sie sich zusammensetzt.
Kai:
[40:07] Okay, hören wir als nächstes mal rein in das neue Lager, genau gesagt in die Wohnhöhle. Und hier gibt es von mir gleich zu Beginn mein kleines Geständnis. Die ersten paar Sekunden meines Musikthemas für die Wohnhöhle sind doch sehr eng angelehnt an einen Soundtrack, den ich damals gehört hatte und bei dem ich sofort das Gefühl hatte, dass es passen könnte. Ein paar Jahre zuvor war der Film The Rock erschienen und ich hatte mir den Soundtrack auf CD gekauft. Der Anfang des Stücks Hummelgast the Rockets mit seinem modernen, mysteriösen, aber auch irgendwie warmen Sound ging mir als Idee für das neue Lager dann einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Kai:
[41:06] Jedenfalls bemühte ich mich damals, diesen modernen Touch innerhalb meiner Gothic-Stilwelt zu adaptieren. Melodie und Harmonie ersetzte ich dann aber natürlich durch eigene Ideen. Neben einem virtuellen E-Bass und einem etwas verrückten Percussion-Mix kommen in diesem Musikstück auch ganz vordergründig synthetische Elemente zum Einsatz. Hier zum Beispiel. Ich hatte mich bei der Gestaltung meines virtuellen Gothic-Orchesters bis dahin hauptsächlich aus Sample-Libraries bedient und einzelne Instrumente und Percussions live aufgenommen, aber nicht wirklich mit einem Sampler-Keyboard gearbeitet. Ich bekam aber immer wieder Besuch von Stefan Heinemann, der zu diesem Zeitpunkt im gleichen Bürogebäude saß und später auch zur Phenomedia AG gehörte. Und Stefan hatte eine eigene Musikproduktionsfirma gegründet. Von ihm bekam ich dann irgendwann das Q2K2000-Keyboard ausgeliehen. Ich habe dann sofort angefangen, einige Sounds davon auch selbst zu samplen und meiner Instrumentenbibliothek für Gothic hinzuzufügen. Und so kam dann auch dieser verrückte Sound zustande aus dem letzten Audiobeispiel.
Kai:
[42:08] Im neuen Lager gibt es mehrere Musikstücke, je nach Gebiet, und dieses Thema für die Wohnhöhle ist eigentlich insgesamt viel zu kurz.
Kai:
[42:15] Im Spiel wird es dann noch etwas gestreckt durch so stehende Klangflächen zwischendurch, aber im Großen und Ganzen sind die folgenden 50 Sekunden oder so auch schon alles, was die Wohnhöhle musikalisch zu bieten hatte. Ich wollte dieses Beispiel aber trotzdem mit aufnehmen, um euch diese kleinen Anekdote über den The Rock Soundtrack erzählen zu können. Naja, hier nun der musikalische Ausflug ins neue Lager und diesmal wirklich in voller Länge.
Chris:
[43:40] Was am Ende dabei herausgekommen ist, ist ein Soundtrack, der die Stimmung der Spielwelt von Gothic spiegelt. Diese Welt ist rau, schmutzig, die Menschen sind direkt und hart und manchmal brutal und es wird viel gekämpft. Man könnte denken, dass die Musik auch so sein müsste. Laut und aggressiv, ein Rumsbums-Soundtrack mit Fantasy-Pauken und großem Orchester. Aber das Gegenteil ist der Fall. Fast scheint es, als würde die Musik angesichts der harschen Realität im Minental frösteln und bedrückt auf die Welt blicken, als würde sie nach Momenten der Schönheit suchen, ohne jemals der fortwährenden Anspannung entkommen zu können, die selbst in ruhigen Momenten über dem Minental lastet. Warum ist das so?
Kai:
[44:25] Es stecken in diesem Emotionspaket, das Gothic 1 ausmacht, ja ganz viele Emotionen drin, die ruhiger sind. Die Melancholie taucht darin auf, diese Hoffnungslosigkeit, die Unterdrückung, die latente Gefahr. Das ist ja nicht so, dass ich die ganze Zeit kämpfe, sondern ich spüre die ganze Zeit die Bedrohung. Und das ist was anderes, auch in der musikalischen Übersetzung was anderes. Das heißt, in der Hälfte, die auf die Interpretation des Kerns von Gothic abzielt, da habe ich mich dann dafür entschieden, eher diese unterschwelligen Töne anzuschlagen. Also unterschwellig, melancholisch, bedrohlich, ablehnend irgendwie, aber nicht so in your face. Dann gibt es noch die zweite Hälfte. Das ist die Hälfte, welche Rolle soll die Musik im Spiel spielen? Welche Funktionen sollen sie erfüllen? Und sie soll natürlich die Emotionen transportieren, aber sie soll auch als Hintergrundmusik funktionieren. Also im Sinne von den Spielern in der Immersion unterstützen und ihn nicht aus seiner Immersion rausreißen. Was zum Beispiel passieren würde, wenn man eigentlich eine ruhige Spielsituation gerade hat. Man läuft einfach nur durch den Wald, aber die Musik drängt sich auf mit vordergründigen, zu dicht arrangierten Melodien. Dementsprechend muss die Musik als Hintergrundmusik, als teilweise seichte Musik funktionieren und den Spieler immer wieder so ein bisschen emotional begleiten, ohne ihn aus seiner Versenkung in dieses Spiel rauszureißen.
Chris:
[45:49] Das ist gar nicht so leicht, wie Kai dann in den folgenden Spielen selber feststellen muss.
Kai:
[45:55] Ein gutes Beispiel dafür, wie einem das nicht so gut gelingen kann, ist Gothic 3. Was musikalisch, sag ich mal rein von der kompositorischen Qualität her und von den Arrangements her und dem Sound, weil es ja dann mit dem Orchester aufgenommen wurde, ein Upgrade ist, quasi ein Level Up gegenüber Gothic 1 und 2. Aber was diese Funktion als begleitendes Element angeht, hat Gothic 3 überhaupt nicht gut funktioniert. Es war viel zu vordergründig teilweise. So sehr, dass es zwar immer wieder gesagt hat, das ist jetzt die Emotion, die du jetzt bitte spüren sollst, lieber Spieler. Aber das hat diese Musik so laut und so aufdringlich gesagt, dass es dadurch eher die Version teilweise gebrochen hat, als sie zu unterstützen. Mal von dem Bug mit der Kampfmusik abgesehen, dass immer die gleiche Kampfmusik gespielt wurde und auch immer an der gleichen Stelle angesetzt wurde. War die Musik an sich zu vordergründig. Bis ich dann bei Risen 1 gesagt habe, okay, zwei Stufen zurückschalten, dann ist die Risen 1 Musik quasi eine Meditations-CD geworden. Also da bin ich wieder ins komplette Gegenteil übergeschlagen. Und so habe ich halt versucht, den richtigen Mittelweg zu finden über die Jahre hinweg.
Chris:
[47:08] Und das sind jetzt auch schon 28 Jahre, seit der 17-jährige Kai Rosenkranz angefangen hat in Bochum an der Musik von Gothic zu arbeiten. 28 Jahre, in denen viele weitere Soundtracks von ihm entstanden sind, die nicht nur die Gothic-Serie geprägt haben, sondern auch andere Spiele und Marken. Aber Gothic lässt Kai nicht los. Zu dem Zeitpunkt, wo diese Folge hier entstanden ist, arbeitet er gerade an der Musik für das Gothic-Remake, das 2025 erscheinen soll. Da kehrt er dann zu den bekannten Orten und Motiven zurück, Zum Beispiel ins neue Lager, das im Remake dann so klingen wird. Gleichzeitig vertraut und bedrohlich, wie Gothic-Fans es kennen und lieben. Es klingt nach zu Hause.
Oh. Das war eine höchst großartige Folge. Für mich dürft ihr ja auch alle in den Musikfolgen was zu Musik erzählen, aber hier direkt vom Musiker selbst zu seiner Musik - und das in einer ordentlichen Tiefe - Einblicke zu bekommen ist echt Sahnehaube.
Bin seit über 35 Jahren Musizierender und an manchen Stellen der Geschichte des Composers fand ich mich wieder.
Coolio!
Oha. Das war überhaupt nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte mit einem Interview garniert mit ein Paar Anekdoten gerechnet und höre dann so eine toll produzierte Erzählung. Das war ein wirklich großartiger Einblick in die Entstehung der Musik in Gothic. Und viel mehr noch: ich habe noch selten einen so offenen, tiefgehenden und gut nachvollziehbaren Einblick in kreative musikalische Prozesse bekommen wie in dieser Folge.
Vielen Dank dafür an Kai und alle, die an der Produktion der Folge beteiligt waren!
Ganz großartige Folge! Hat mir super gefallen.
Schöner Vortrag von Kai, leider klingt er stellenweise sehr abgelesen. Ein natürliches Gespräch hätte mir besser gefallen
Trotzdem schöne Folge und gut erklärt wie das Musiksystem funktioniert
Fantastische Folge!