REVIEW | Atomfall
Atomfall ist eine „Immersive Sim“ von Rebellion, über die irgendwie keiner geredet hat. Ein Text von Gunnar Lott.
Eines der Genres, von denen es einen Tick zu wenig Spiele gibt, sind große Immersive Sims wie Dishonored, Prey oder Deus Ex. Das hat seinen Grund: Diese Titel sind vollgestopft mit Systemen, die miteinander konkurrieren: Schleichen, Handeln, Crafting, Skillprogression, Feuergefechte, Meucheln, Dialoge und somit ein Alptraum in der Produktion. Umso netter, wenn mal wieder einer rauskommt, dachte ich, als ich Anfang des Jahres von Atomfall las. In der Presse wurde es komischerweise als Fallout-Konkurrent gehandelt, aber ein Rollenspiel ist das nicht und auch kein Shooter wie S.T.A.L.K.E.R.
Kurz zur Ausgangslage des Spiels: Wir bewegen uns durch eine gekapselte postapokalyptische Welt, eine eingezäunte Region im England der 60er rund um das Atomkraftwerk Windscale, wo irgendwas passiert ist (angelehnt an ein reales Ereignis: siehe Wikipedia). In der Zone kämpfen Fraktionen miteinander, die Armee, irgendwelche Druiden und Banditen, es gibt ein paar retrofuturistische Elemente wie doppelt manngroße Roboter oder portable Atombatterien, aber auch Telefone mit Wählscheiben. Das grundlegende Gameplay ist ein Mix aus allem, was man heutzutage gern hat: Man erforscht verlassene Industrieanlagen, führt Gespräche, craftet Zeug, sucht Schlüssel für verschlossene Türen, findet geheime Wege und darf dabei immer selbst entscheiden, ob man Gegnern Fallen stellen, sie umschleichen oder sie in direkte Konfrontationen verwickeln will. Es geht eigentlich immer alles. So weit, so Immersive Sim. Oder zumindest Immersive Sim Light™, denn ganz so deep sind die Systeme nicht.
Aber in meinem Umfeld war das Spiel auffällig unsichtbar nach dem Release: Keine redet darüber, keiner spielt es. Aber wieso? Das klingt doch alles toll! Bin ich der einzige, den das interessiert? Ist das ein Geheimtipp, den die Welt extra für mich produziert hat? Naja, ich hab’s gekauft, als DVD für die PS5, und dann monatelang rumliegen lassen. Bis sich dann ein freies PS5-Fenster ergeben hat, weil meine Tochter endlich mit dem dritten Run durch Ghost of Tsushima durch war. Und …
Die Welt an sich hat mir tatsächlich gefallen: Rostige Roboter patrouillieren durch verfallene Ruinen, brutalistische Betonbauten werden langsam von der Natur zurückerobert, dem Dorf Wyndham fehlt nur der Dauerregen, um als authentisch englisch durchzugehen. Die Kämpfe sind ein bisschen unpoliert, aber viel besser als in vielen anderen Spielen dieser Art, eine schöne Mischung aus Fern- und Nahkampf und weitgehend nicht zu leicht. Die Duelle gegen die großen Roboter fand ich sogar ganz toll: schnell ausweichen, Schwachstellen gezielt ausschalten und dabei die Umgebung taktisch nutzen – das war … befriedigend.
Ein interessantes Detail: Die Navigation auf der Karte kommt völlig ohne die üblichen Wegfindungspfeile aus, was erstmal sehr erfrischend ist. Man orientiert sich stattdessen grob an Geländemerkmalen. Das wird allerdings wieder ein bisschen konterkariert, weil Atomfall wichtige Orte mit exakten Koordinaten versieht. Aus der vielversprechenden freien Geländesuche („Finde das Gebäude nördlich des Flusses”) wird so doch wieder ein „Ich renne stumpf zu 29,36“-Spiel. Wobei man fairerweiser sagen muss, dass man das alles einstellen kann: Wie sehr man geführt werden will, wie schwer die Kämpfe sein sollen.
Mein größter Kritikpunkt betrifft aber die Progression: Alles ist irgendwie immer möglich, ganz egal wie wenig ich vorher gefunden oder gelernt habe. Das Spiel will offensichtlich verhindern, dass jemand hängenbleibt – was nett gemeint ist, aber auf Dauer jegliches Erfolgsgefühl raubt. Ob Schleichen, Hacken oder Ballern, alles funktioniert jederzeit irgendwie. Das fühlt sich beliebig an und nimmt dem Fortschritt die Spannung. Es hat auch die Fraktionskrankheit, die viele Rollenspiele haben: Anstatt sich für eine entscheiden zu müssen, kann man fast bis zum Ende alles für alle machen.
Atomfall ist deshalb nicht schlecht, aber auch nicht exzellent – ein okayer Versuch, mit den ganz Großen mitzuhalten. Vielleicht hat deswegen keiner drüber geredet, wir sind ja heute alle so verwöhnt und spielen nur noch die großen Hits, die man gespielt haben muss oder die kleinen, superspeziellen Indie-Sachen, die exakt zu unserem Geschmack passen. Spiele wie Atomfall, die, nun, ganz gut, sind, fallen da schon mal durchs Raster.
Fazitchen: Ich hab’s schon mit Spaß durchgespielt, nochmal brauch ich’s aber nicht.